"Machst du eigentlich manchmal auch was anderes? Also außer laufen?" Mittlerweile bin ich die Frage gewohnt – und habe eine Standardantwort: Ja, ich gehe hin und wieder schwimmen. Oder Radfahren. "Nein, im Ernst jetzt: Arbeitest du manchmal auch?" Seufz. Ebenfalls im Ernst: Natürlich arbeite ich "auch". Manchmal. Wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.

Zum Beispiel in Tirol: Seit ein paar Jahren darf ich einmal im Jahr am Achensee ein kleines, aber umso feineres Literaturfestival moderieren. Achensee Literatour heißt es – und normalerweise findet es im Frühjahr statt.

Corona-bedingt ging das heuer nicht, doch mit einem präzisen und strengen Corona-Konzept ließ sich die verkleinerte, verkürzte neunte Ausgabe des Lesereigens vergangene Woche eben doch abhalten: Unter anderen lasen Norbert Gstrein (ganz hinten), Anna Weidenholzer, Robert Prosser (vorne) und Bernhard Aichner – und die Tiroler Autorin Lena Avanzini bat zu einer "Krimiwanderung". (Avanzini war, als das Bild geschossen wurde, noch nicht angereist – statt ihr ist der Chef unserer Lese-Herberge, Karl Reiter vom Posthotel, mit dabei.)

Foto: thomas rottenberg

Ja eh: Mit Laufen hat das auf den ersten Blick recht wenig zu tun – sieht man davon ab, dass die Region rund um den Achensee eine unendlich leiwande Laufarena ist. Aber das habe ich schon in den vergangenen beiden Jahren hier eh schon recht ausführlich beschrieben.

Und die Idee, den Achensee heuer als Swimrun-Option auszuprobieren, fanden die lokalen Touristiker mehr als spannend – auch und gerade weil sie davor noch nie von Ötillö und Backwaterman gehört hatten. Allerdings scheiterte das dann an meiner Warmduscher-Einstellung: Der Achensee ist zwar wunderschön – aber im Frühherbst dann doch auch schon frisch. 14 Grad Wassertemperatur sind zwar kein Grund, nicht kurz ins Wasser zu hüpfen – aber länger als zwei Minuten zu plantschen reizte mich dann doch nicht. Also Plan A.

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Plan A wäre nämlich eigentlich die logische Option: Auch wenn beim Tiroler Lesereigen weder Sach- noch Sportbücher auf dem Programm standen (okay, Robert Prossers wildes Boxergleichnis "Gemma Habibi" geht zwischen Wien, Syrien und Ghana doch auch in diese Richtung), gibt es gefühlt eine Million Laufbücher. Vom einfachen Routenbuch (da habe sogar ich selbst einmal eines geschrieben) über Trainingslehre-Fibeln und Laufbibeln hin zu Marathon-Kochbüchern und niedergeschriebenen Traumlaufberichten bis zu "echter" Literatur reicht das Spektrum. Und das Gleichnis, dass Autorinnen und Autoren sich über Kurzgeschichtensammlungen und Erzählungen wie über Intervalle und Longjogs langsam zum Entwicklungsroman – dem Marathon – hinarbeiten, ist auch nicht neu.

Ich habe deshalb einfach vier sehr verschiedene Laufbücher mit nach Tirol genommen. Zwei sind ziemlich frisch, eines mittelneu – und eines schon ein Jahr alt. So unterschiedlich sie sind: Lesenswert ist jedes der vier.

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Kommen wir zunächst zu zwei "klassischen" Lauf- oder Fitnessbüchern: Theorie, Motivation und Trainingslehre stehen da im Vordergrund – und natürlich auch das legitime Bewerben der eigenen Personalcoaching- oder Laufgruppenaktivitäten.

Ganz geradeaus und direkt macht das die umtriebige Wiener Personal- und Bewegungstrainerin Beatrice Drach in ihrem bei Goldegg erschienenen "Wirf deine Waage in den Müll". Zielgruppe, erklärt Drach, seien in erster Linie Frauen – aber nicht nur Läuferinnen.

Nur: Das macht nichts. Denn die "sportwissenschaftliche Beraterin" – auch wenn etliche akademische Sportwissenschafter das nicht gerne hören: diese Qualifikation ist keine Eigenerfindung, sondern ein amtlich auf Gewerbescheinen angeführter Berufstitel – betont und erklärt immer wieder, dass Laufen nur eine von etlichen Arten sei, sich fit zu halten.

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Drach deklariert sich klar als überzeugte Läuferin und ist überzeugt, dass in jeder und jedem ein Forest Gump steckt ("Erwecke den Forest Gump in dir" heißt ein Kapitel). Dennoch warnt sie vor "Monokulturen", also dem Vernachlässigen von Ausgleichssport oder Kraft-Stabi-Training.

Dass sie selbst lange aufs Dehnen "verzichtete" und sich dann wunderte, wieso ihr beim Yoga manche Asanas so gar nicht leicht fallen wollten, macht das Buch authentisch und glaubwürdig: Hier schreibt keine unfehlbare Supersportlerin, sondern eine Frau, die selbst erst am – ich nenne es mal – "zweiten Bewegungsweg" zum Sport fand: Mit einem ganz normalen, eben nicht perfekten Körper, einer selbstausbeuterischen Karriere und einem Vorbeischrammen am Burnout im Handgepäck startete Drach genau dort, wo auch ihre Zielgruppe heute steht – und holt sie deswegen punktgenau ab.

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Didaktisch, sport- und trainingstheoretisch und inhaltlich ist an dem, was Drach übers Laufen im Speziellen und über Sport und Training im Allgemeinen sagt, nichts auszusetzen. Im Gegenteil. Mir persönlich sind die Verweise auf und Zitate von glücklichen Kundinnen halt ein wenig zu dicht.

Andererseits lebt aber jeder Coach, der sich an Neu- oder WiedereinsteigerInnen richtet und sein Publikum nicht vom Mitbewerber, sondern von der Couch abholt, von diesen persönlichen, nachvollziehbaren "Du hast mich aus der Trägheit daheim geholt"-Bewertungen und Testimonials. Authentizität ist da so wichtig wie Kompetenz. Wenn man beides hat und vorweisen kann, wieso nicht beides zeigen? Abgesehen davon ist es auch unterhaltsam, wie Drachs Kundinnen berichten, bei jeder Parkbank, an der sie vorbeikommen, an die Trainerin zu denken. Nein, nicht wegen netter Park-Plaudereien: Dass man auf einer Bank auch sitzen kann, dürfte Drach gar nicht wissen.

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Auch wenn sich "Wirf deine Waage in den Müll" primär an Frauen richtet, stimmt das, was die Autorin postuliert, auch für Männer. Klar: Bei "Sport in den Wechseljahren" und Co fühlen sich meine Buddies und ich eher nicht angesprochen – aber: Auch Männer altern. Auch unser Hormonhaushalt ändert sich. Die Frage, wie man mit dem Rückgang der Leistungsfähigkeit, sich verändernden Körperformen, Prioritäten und auch Denkmustern umgeht, stellt sich auch uns. Nur redet da halt kaum je wer drüber.

Wofür ich Beatrice Drach wirklich danke: Ich selbst habe mich hier noch nie über das Thema "Sport-BH" getraut. Als Mann betanzt man ohnehin mehr als dünnes Eis, sobald man Frauen irgendwas als "Muss" erklärt. Erst recht bei "echten" Frauenthemen.

Drach tut sich da naturgemäß leichter und bringt es auf den Punkt: Perfekt funktionierende und individuell passende Hi-End-Ausrüstung, schreibt sie, sei gerade beim Einstieg nicht wichtig – mit zwei Ausnahmen: Laufschuhe und Sport-BH. Und zwar unabhängig von der Körbchengröße.

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Um Frauen geht es auch bei Walter Kraus immer wieder. Natürlich aus einer ganz anderen Perspektive. Der aus Kärnten stammende Sport- und Ernährungswissenschafter gehört in der Wiener Laufszene mit seinem Label Runtasia seit Jahren zum fixen Inventar. Ich selbst bin zu Beginn meines Läuferlebens auch oft und gerne mit ihm und seinen Gruppen unterwegs gewesen – egal ob im Prater, in Schönbrunn (der donnerstägliche "Frühlauftreff Rollover Schönbrunn", der vorige Woche sein fünfjähriges Jubiläum feierte, ging aus einer Kraus-Gruppe hervor) oder feinen Vollmondläufen am Kahlenberg oder an anderen schönen Plätzen.

Kraus positioniert sich ganz bewusst dort, wo es für den Breitensport am wichtigsten ist: niederschwellig und mit auch für Einsteigerinnen und Anfänger nachvollziehbar heruntergebrochen-fröhlich-augenzwinkernden Botschaften – die dennoch alles andere als nicht fundiert oder gar falsch sind. Aber eben auch ohne jenen Druck, der Leute in meiner (Erfahrungs)-Liga motiviert, andere aber schon auch verschrecken kann.

Foto: thomas rottenberg

Genau so lesen sich Kraus' "Kurze Laufgeschichten – Interessantes und Amüsantes übers Laufen" auch. Leicht, flockig und amüsant – aber die Botschaft bleibt hängen. Das beginnt beim Flapsigen "Nichtlaufen ist auch keine Lösung" und zieht sich dann wie ein roter Faden durch alle Kapitel.

Egal ob Kraus da launig über typisch männliches und weibliches Laufen schwadroniert, unterschiedliche Wettkampftypen erklärt oder im Kapitel über die Aufregung, die viele Leute beschleicht, wenn sie sich eine Startnummer ans Shirt pinnen, darüber spöttelt, dass und wieso nur Triathleten Startnummernbänder tragen dürfen/sollen: Er packt die Leserinnen und Leser mit jener Mischung aus Kärntner und Wiener Schmäh, die ihn auch im Umgang mit seinen Gruppen "im Feld" unverwechselbar macht – und die Leute bei der Stange hält.

Foto: thomas rottenberg

Denn neben allem Schmunzeln bleibt da eben immer auch ein bisserl Inhalt hängen. Dass Läufer (und Läuferinnen) auch eine eigene Sprache haben und stundenlang über die vermeintlich einfachste Sache der Welt debattieren können, treibt Nichtläufer, die es an einen Tisch mit zwei Läufern verschlägt, mitunter in den Wahnsinn. Oder langweilt sie zu Tode. Auf alle Fälle verstehen sie oft kein Wort. Walter Kraus' "Kurze Laufgeschichten" eignen sich gerade deshalb auch als Lektüre für (noch) nicht laufende Menschen: Kraus schreibt bewusst niederschwellig – und seine liebevolle Ironie holt auch Außenstehende ab.

Ganz abgesehen davon kann man dann auch bei anderen Themen mitreden: etwa der Frage, ob Sportlerinnen mehr und besseren Sex haben. Oder ob Sex in der Nacht vor einem Wettkampf Kräfte raubt – oder ob Glückshormone und guter Schlaf danach nicht sogar antreibend und leistungssteigernd wirken. (Das gilt übrigens auch für Fußball.)

Foto: thomas rottenberg

Ganz anders ist dagegen der Zugang von Thomas Taut. Der Wiener Unternehmer steht – oder läuft – am anderen Ende des Laufspektrums: nicht nur, weil er es als Allererster überhaupt geschafft hat, die "Big Six" (also die Prestige-Marathons von Berlin, London, New York, Chicago, Boston und Tokio) in nur einem Jahr abzuspulen, sondern und vor allem, weil er 2018 als erster Österreicher die "World Marathon Challenge" lief – und schaffte: sieben Marathons in sieben Tagen auf sieben Kontingenten.

Foto: thomas rottenberg

Tauts "Über Grenzen laufen" (Egoth) ist der beeindruckende Bericht über die Geschichte eines Grenzganges. Nicht nur weil es Normalo-Läuferinnen und -läufern oft schon beim Gedanken an nur einen Marathon im Leben den Atem verschlägt. Sondern auch, weil außerhalb der kleinen Blase der Freak-Läufer (ich meine das liebevoll) – kaum jemand weiß, dass es solche Bewerbe überhaupt gibt: Ja, sich an sieben Tagen in Folge die 42-Kilometer-Kante zu geben und dazwischen auch noch jedes Mal den Kontinent zu wechseln, ist nicht nur die Marotte von ein paar "EinzeltäterInnen", sondern funktioniert auch als Bewerb mit immerhin dreistelligen TeilnehmerInnenzahlen. Das muss man nicht verstehen. Darüber kann man auch diskutieren (wobei der ökologische Reise-Fußabdruck des Formel-1-Zirkus oder der Champions League wohl eine andere Nummer ist). Aber ganz abgesehen davon ist dieser Stunt auch vom rein sportlich-organisatorischen Aspekt superspannend.

Foto: thomas rottenberg

Thomas Taut erzählt in seinem Buch, "meinem ersten!", wie er handschriftlich und stolz in das Exemplar schreibt, das er mir schon vor Monaten zugeschickt hat, wie es so weit kommen konnte. Wie er, nachgerade klassisch, vom Couchpotato zum Läufer wurde, wie er vom rauchenden, "asthmatischen Allesfresser" zum Mehrfach-Marathoni mutierte – und zwar innerhalb weniger Jahre.

Das und wie ihn das in allen Belangen des Lebens verändert, welche Menschen er auf seinem Weg zu den 295 Laufkilometern innerhalb von nur 168 Stunden traf, ist spannend und faszinierend – auch für Menschen, die nicht einmal im Traum auf die Idee kämen, sich so eine Nummer zu geben.

Dass Taut ganz nebenbei auch ziemlich viel über sein physisches und mentales Training, Ernährung und Marathonvorbereitung erzählt, ist auch nicht verkehrt: Ein bisserl was kann man da nämlich immer auch für sich selbst mitnehmen.

Foto: thomas rottenberg

Dass Thomas Tauts Buch in Egon Theiners Egoth-Verlag erschienen ist, ist kein Zufall: Theiner ist sowohl als Verleger als auch als Mensch auf die Kombination von Sport und Buch abonniert – und selbst begeisterter und routinierter Läufer mit einem Faible für das Nicht-Alltägliche – ich lief auch schon gemeinsam mit ihm. Etwa den Great Ethiopian Run in Addis Abeba 2018 – und einem Hang zu den eher langen Distanzen.

Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass die deutsche Ausgabe von Adharanand Finns "Der Aufstieg der Ultraläufer" bei ihm erschienen ist.

Finns "Reise an die Grenzen der menschlichen Ausdauer" ist mittlerweile ein Best- und Longseller auf dem Laufbuchmarkt. Die Austro-Lektorin des Buches hat es mir vor etwas mehr als einem Jahr als Druckfahne geschickt – und ist (nachvollziehbar) gemeinsam mit Theiner seither ein bisserl "pissed", dass Finn seit damals auf jenem Stapel an Büchern und Themen liegen blieb, die man "als Nächstes" lesen und "übernächste Woche" rezensieren will.

Foto: thomas rottenberg

Denn dass ich dem Briten (den ich in mit seiner Familie in einem anderen Leben bei einem seiner ersten Ski-Trips betreuen durfte) damit unrecht tat, steht außer Zweifel: Der Journalist (unter anderem für den "Guardian") und Autor etlicher anderer Laufbestseller (etwa "Running with the Kenyans") beschreibt in dem 400 Seiten starken Wälzer anschaulich und packend, wie und wieso das Laufen von Distanzen, die einen Marathon gerade Mal wie ein lockeres Aufwärmtraining wirken lassen, in den letzten Jahren nachgerade explodiert ist.

Dass und wieso der (Straßen)-Marathon trotzdem immer noch als Königsdisziplin der Langstrecke gilt, analysiert er auch treffend und pointiert – freilich ohne Larmoyanz, Neid oder Bösartigkeit: Es geht bei der Breitenwirkung von Sport eben auch um Vermarktbarkeit, Werbewirkung und Nachvollziehbarkeit – und auch wenn 42 Kilometer für Normalsterbliche unvorstellbar sind, sind die Bilder und Dimensionen eines Stadtmarathons doch greifbarer als etwa jene von Ultraläufern, die sich beim UMTB die Runde um den Montblanc geben: 170 Kilometer und 10.000 Höhenmeter nämlich.

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Finn beschreibt den Weg dorthin aber nicht bloß als Beobachter, der über die Steigerung der Finisherzahlen bei Ultraläufen um sagenhafte 400 Prozent im Verlauf der letzten 15 oder 20 Jahre staunt und auch einen Blick auf die Industrie, die Hersteller von Hardware und das Heranwachsen von echten Szene-Superstars schreibt. Finn ist – wie in all seinen Berichten und Büchern – auch selbst Akteur. Er erzählt die Geschichte eines Läufers (wobei: reiner Durchschnittsläufer war er nie), der sich auf den Weg in Reviere und zu Leistungen macht, die er selbst noch kurz davor als "unmöglich machbar" klassifiziert hätte.

Und staunend feststellt: Das geht. Wie so Vieles andere auch.

Wenn man will.

Und genau das macht solche Bücher dann auch für Nicht-Ultra-Läuferinnen und -läufer (und sogar für Sport/ Laufverweigerer) spannend. (Thomas Rottenberg, 16.9.2020)

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