Im Gastkommentar beklagt der Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits im Bund Visionslosigkeit und im Wien-Wahlkampf Langeweile und Impulslosigkeit. Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Neos-Lab-Direktor Lukas Sustala: Die Pandemie straft Ignoranz.

Zeichnung: Michael Murschetz

Die durch Covid-19 erzwungene Verlangsamung, bis hin zum Stillstand, macht zahlreiche politische Versäumnisse und viele Mängel sichtbar. Wie mit weggezogener Decke liegt Österreich da. Ein Land ohne nennenswerte strategische Entwürfe in Wirtschafts- und Technologiefragen und ohne substanzielle Reformpläne im Sozial- und Bildungsbereich, die gewichtige Zurüstungen für die Zukunft darstellten. Keine brisanten Ideen, geschweige denn programmatische Großtaten. Stattdessen Ad-hoc-Maßnahmen und verwaltungstechnische Scharmützel.

"Österreich, der kleine Staat ohne Plan B, mit Spontanpolitik aus dem Augenblick heraus."

Dass aus zahlreichen Ressorts, von Corona abgesehen, kaum Themen nach außen drangen, ist nicht verwunderlich. Es offenbart jedoch auch die Tatsache, dass seit bald einem Jahrzehnt an sich wenig Inhaltliches vorliegt. Kaum gewichtige Programme, denkwürdige Visionen oder unkonventionelle Konzepte, die erarbeitet worden wären, um nun zu rascher Umsetzung zu gelangen. Österreich, der kleine Staat ohne Plan B, mit Spontanpolitik aus dem Augenblick heraus.

Themen kurz streifen und durch den PR-Fleischwolf drehen ist das Gegenteil von inhaltlicher Auseinandersetzung. An der Kassenfusion im Sozialversicherungsbereich etwa, die keine Reform, sondern eine Zentralisation ist, werden sich ohnehin die Regierungen nach der gegenwärtigen abzuarbeiten haben; an allen Kosten und sozialpolitischen Verwerfungen.

Türkises Schattenboxen

In der Außenpolitik mangelt es seit Jahren, abgesehen von vermarktbarer Ein-Satz-Flüchtlingspolitik, an gerichteter Aktivität und strategischer Planung. Keine wertvollen Zurufe für die Weltprobleme mehr, die zumindest in den weltpolitischen Diskurs einfließen könnten. Jetzt ist die Leitung tot. Österreich wird auf europäischer Ebene mit Lächerlichkeiten wie dem populistischen Agitieren als Teil der "Sparsamen Vier" assoziiert, einem offenkundigen Schattenboxen, um innenpolitisches Kleingeld zu sammeln.

Auch die Wissenschaftspolitik arbeitet sich, anstatt belangvolle, weit in die Zukunft reichende Entwürfe zu entwickeln, primär an der Fehlentscheidung "Bolognasystem" ab. Universitäten träumen höchstens noch vom humanistischen Bildungsideal Humboldt’scher Prägung. In der Praxis sind sie bereits zu Ausbildungscentern für die Wirtschaft degradiert. Visionen? Fehlanzeige.

Punktuelle Almosen

Die Kultur, stets Trägerin und Transmitter von Identität, liegt am Boden und röchelt. Als geistiges Hintergrundleuchten in einer Gesellschaft absolut unverzichtbar, fristet sie, trotz neuen Staatssekretariats, nach wie vor ein Schattendasein in dieser Regierung. Eine Branddecke der Ignoranz droht alles Kulturelle zu ersticken. Dennoch hält die Koalition der grassierenden kulturellen Hungersnot nur wenig mehr als punktuelle Almosen entgegen.

Wien wählt. Ein unaufgeregter, risikoloser, langweiliger Wahlkampf mit Verbalradikalismen hier und da. Kaum ein Slogan, der Mut macht. Weitgehend energielos wirkende Kandidatinnen und Kandidaten aller Couleur. Wie ermüdend! Lustlos-mangelhaft verfasste Wahlprogramme, die teils wie unstrukturierte Copy-Paste-Textbausteine vergangener Wahlgänge anmuten und vor irrationalen Wunschlisten, populistischen Allgemeinplätzen und banalen Widersprüchen nur so strotzen. PR-Camouflage, dessen Lektüre man im Nachhinein als Zeitverschwendung bedauert. Der artikulationsfähige Teil der Gesellschaft scheint kaum mehr eine politische Zielgruppe zu sein.

Koalitionäres Wohlverhalten

Grüne Impulse und Visionen schmelzen unter den Sachzwängen koalitionären Wohlverhaltens wie Eisberge auf dem Weg zum Äquator. Und selbst die Freiheitlichen wirken in diesem Wahlkampf wie um sich schlagende Ertrinkende, die mit populistischen Spaltbildern wieder einmal die gefährliche, große Hinwendung an das Volk versuchen; so als fokussierten sie nur noch auf die Zielgruppe der Apolitischen und Desinformierten hierzulande.

Dass die Sozialdemokratie, unter anderem aufgrund ihres nicht stattfindenden Erneuerungsprozesses, nicht in der Lage ist, aus diesem Ideenvakuum Österreichs zu profitieren, ist eigentlich eine Schande für eine ideologiehistorisch so überreiche Partei. Falls die SPÖ auf Bundesebene jemals wieder Lust verspüren sollte, in dieser entleerten Politlandschaft Regierungsverantwortung zu übernehmen, erschiene ein umfassender Erneuerungsprozess samt Führungswechsel unumgänglich. Nach der Wien-Wahl drängt die Zeit.

Langeweile und Impulslosigkeit

Insgesamt erinnert die Langeweile und Impulslosigkeit des Wiener Wahlkampfes an das Lustspiel Leonce und Lena des jungen Georg Büchner, bereits in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts mit Leib und Seele sozialrevolutionär und visionär gestimmt: Seine Beobachtung passt zur diesjährigen Wahlkampfstimmung, zu den handelnden Parteien und potenziellen Koalitionen: Sie verlieben sich aus Langeweile, verheiraten sich aus Langeweile und sterben schließlich aus Langeweile. (Paul Sailer-Wlasits, 17.9.2020)