Die Rede zur Lage der Europäischen Union ist im Kalender der Gemeinschaft fixer Bestandteil geworden. Jedes Jahr nützt der Präsident der EU-Kommission die erste Plenarsitzung des Parlaments nach dem Sommer, um darzulegen, wo es im folgenden Arbeitsjahr langgehen soll.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
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Begonnen hat damit der Portugiese José Manuel Barroso vor zehn Jahren. Er war farblos, schaute sich diese Übung von US-Präsidenten ab, die mit der "State of the Union" traditionell die Einheit mit der Nation beschworen – bevor Donald Trump kam. Barroso gelang das nie wirklich. Sein Nachfolger Jean-Claude Juncker nutzte die "große Rede" oft dazu, den Unwillen und die Zerstrittenheit der Regierungschefs zu kritisieren, "Werte und Sinn" der Union in Erinnerung zu rufen.

Nun trat Ursula von der Leyen erstmals an. Und auch bei ihr gilt: Die Präsidentin sprach nicht die Bürger an, sondern vor allem die Abgeordneten und Profis im EU-Betrieb.

Anstatt sich in der größten Krise direkt an die Menschen zu wenden, spulte sie in fast eineinhalb ermüdenden Stunden ein Programm all ihrer Vorhaben ab, abstrakt, selten vertieft. Sie hat schön geredet. Kaum jemand kann so eindringlich über Werte und Moral, über hehre Ziele und immer noch größere Pläne sprechen. Aber es ist schon fast eine Kunst, so wenig Konkretes zur aktuellen Lage und zu Lösungen in der Corona-Krise zu sagen wie die Kommissionschefin. Mehr Gegenwart statt Zukunft wäre besser gewesen. Eine vergebene Chance. (Thomas Mayer, 16.9.2020)