Übersetzte Baudelaire nicht nur, sondern erwählte ihn zum Gewährsmann für seine Theorie der Wahrnehmung: Walter Benjamin, anno 1939 Exilant.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Vor gut 80 Jahren fertigte Walter Benjamin, im Pariser Exil auf sich gestellt, nicht ganz freiwillig ein Extrakt an. Seine permanente Beschäftigung mit Charles Baudelaire (1821–1867), dem Schöpfer der "Fleurs du Mal", war zum Glutkern des "Passagenwerks" geworden. Baudelaire bildete darin das Herzstück: Seine Lyrik wurde zur Kronzeugin aufgerufen. Vor allem auf ihre Aussagen stützte Benjamin die Rekonstruktion von Paris, der "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts". Im schneidenden Ton dieser Poesie, ihrer Emanzipation verrufener Orte und verruchter Gestalten fand er entscheidende Bausteine für seine Theorie des Eingedenkens.

Benjamin (1892–1940) sinnt über die besonderen Schikanen nach, die die Moderne den Städtebewohnern, den zu Massen verklumpten Passanten, aufnötigt. Die Menschen zieht es durch die Prachtboulevards, und zwar in Strömen. Hart prallen die Individuen aufeinander. Es sind die sehr realen Püffe ihrer Ellbogen, die ihnen die Konkurrenzverhältnisse des Kapitalismus vor Augen führen.

Hier soll daher die frappierende Wahrnehmungskritik interessieren, die Benjamin durch die zwölf Abschnitte von "Über einige Motive bei Baudelaire" (1939) lenkt und leitet. Der Text ist die Frucht von Überarbeitungen; deren Produkt war an das "Institut für Sozialforschung" in New York gerichtet. Noch einmal beschäftigt Benjamin die Umstülpung fortgeschrittener Erkenntnis. Was, um das Maß von Erfahrung voll zu machen, dem Menschen an Erinnerung zuteil wird, steht ihm nicht willentlich zu Gebot.

Freud im Talon

Im Umweg über Marcel Proust "Verlorene Zeit" – und in eigenwilliger Übernahme gewisser Freud‘scher Thesen zum Bewusstsein – erhärtet Benjamin den Befund, dass die Privatperson dort, wo sie Erfahrungen sammelt, unrettbar vereinzelt ist. Erinnerung trifft uns als Schock ("Chock" bei Benjamin), da wir keine Möglichkeit besitzen, über sie frei zu verfügen. Sie wird zur "mémoire involontaire".

Das entsprechende Maß an Unfreiheit aber wird ebenso durch die Leere moderner Zeitlichkeit vermittelt. Sinnlos tickt der Sekundenzeiger. Menschen, deren authentische Erfahrungen nichtig werden, verinnerlichen den Rhythmus der Arbeit am Fließband. Nicht anders das "Chock"-Erlebnis des Passanten; die potenzielle Anstößigkeit des eigenen Verhaltens nötigt ihn zu Automatengesten.

Der Mensch als "Fortsatz der maschinellen Apparatur": Etwas Unrettbares wird von Walter Benjamin avisiert. In und durch Baudelaire gelangt der spekulative Kopf zur Auffassung einer Welt, die im Ganzen der Erlösung bedürftig ist. Spannung verheißt Benjamins In-Aussicht-Stellung einer "Ferne", die so unnahbar bleibt wie die "Vorwelt", die Baudelaire in seinen Gedichten heraufbeschwört – nur um ihr Bild "durch die Tränen des Heimwehs" zu verschleiern. Von uns ferngerückt sind die Dinge, insofern sie den Blick, der in sie eingeht, unter keinen Umständen erwidern.

Der Blick des Raubtiers

Das mit Sicherungsfunktionen ausgestattete Auge des Großstädters kann solcherart als leer erscheinen. Im Zwielicht der Gaslaternen um 1850 weiß man zwischen Dämonie und Rechtschaffenheit in den Augen der Mitmenschen nicht mehr zu unterscheiden. Kommt Leben in die abgematteten Augen der Städtebewohner, "so ist es das des Raubtiers, das nach Beute Ausschau haltend zugleich sich sichert". Und: "Der sichernde Blick enträt der träumerischen Verlorenheit an die Ferne."

Von einer Wiederherstellung haben vielleicht beide geträumt, Baudelaire wie Benjamin: vom erfüllten Bild einer Erfahrung, in der individuelles und kollektives Glücksempfinden zusammenfließen. Um daran wirklich zu glauben, waren beide freilich zu klug. (Ronald Pohl, 18.9.2020)