Wie bekämpft man religiösen Eifer? Idir Ben Addi und Victoria Bluck in "Le jeune Ahmed".

Foto: Stadtkino

Die Filme der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne haben mit ihren sozialen Laborsituationen, die unter Hochdruck geraten, schon fast ein eigenes Genre geschaffen. Die Antwort auf die Frage, warum sich Menschen für einen bestimmten Weg entscheiden, behandeln sie mit einem Minimum an Psychologie. Stattdessen rücken die Belgier spätestens seit ihrem 1999 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Rosetta die Körper in den Mittelpunkt: ein haptisches Spiel der Gesten und exakt studierten Abläufe, in denen ihre Figuren erst allmählich Tiefe entwickeln.

Das sollte man auch bei ihrem jüngsten Film Le jeune Ahmed im Hinterkopf behalten, der sich einem politisch höchst aufgeladenen Thema widmet. Ahmed ist ein 13-jähriger, arabischstämmiger Bursche, der unter den Einfluss eines extremistischen Imams gerät. Von der Indoktrinierung selbst ist kaum etwas zu sehen, denn mit Beginn des Films bewegt sich Ahmed bereits auf Konfrontationskurs. Er weigert sich, seiner langjährigen Lehrerin die Hand zu reichen, seine Mutter bezeichnet er im Streit als Säuferin – wobei er dafür das arabische Wort benützt.

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Das Erste, was an dem von Idir Ben Addi verkörperten Nachwuchsislamisten auffällt, ist freilich, wie wenig er dem klischierten Bild eines Fanatikers entspricht. Mit seinem Lockenkopf, der Brille und dem leicht pummeligen Körperbau wirkt er noch wie ein halbes Kind. Tatsächlich ist es auch diese Wahrnehmung von außen, gegen die Ahmed, der sich wie alle Teenager einen Freiraum erobern will, aufbegehrt.

Attacke mit dem Messer

Doch die Dardennes sind eben weniger an den Motiven des kleinen Gotteskriegers interessiert, diese werden nur angedeutet. Viel wichtiger ist ihnen zu erzählen, mit welchen Angeboten ein westliches Land auf eine solche ideologische Erstarrung in seiner Mitte reagiert. Pädagogische Angebote helfen nicht, im Gegenteil. Die liberale Lehrerin, die sich mit ihrem weltlichen Arabischkurs in Konkurrenz zum Imam begibt, wird zum Feindbild. Ahmed versucht sie dann tatsächlich mit dem Messer zu attackieren. Die Dardennes dramatisieren den Moment nicht über Gebühr, die Tat vollzieht sich mit der Logik eines naiven Adepten, der sich als besonders gewissenhaft versteht. Man kann kritisieren, dass der Film dem Prozess ausweicht, der einem solch extremen Schritt vorausgeht. Doch die Entschlossenheit Ahmeds, sein Unbeirrtsein ist seine Setzung – und der eigentliche Punkt. Der Film nimmt seine Überzeugung beim Wort, wie beim eigensinnigen Kind der Gebrüder Grimm ist jede Zuwendung zwecklos.

Jede Pädagogik versagt

Im zweiten Teil des Films, als Ahmed schließlich in einem Rehabilitationszentrum landet, hieven die Dardennes dieses Scheitern auf eine institutionelle Ebene. Weder Sozialarbeiter noch Psychologen vermögen mit ihrer wohlwollenden Pädagogik den jungen Insassen umzupolen. Die beiden Systeme greifen nicht ineinander. Einzig ein junges Mädchen (Victoria Bluck) auf einem Bauernhof, wo Ahmed Hilfsdienste versieht, vermag ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Als sie ihn küssen will, huscht kurz ein schamvolles Lächeln über sein Gesicht – umsonst?

Wie die Dardennes diese Konstellation dann noch mit dem Spannungsbogen eines Thrillers versehen, ist meisterhaft. Lässt Ahmed, einem auf eine Mission programmierten Terminator gleich, nicht eher locker, bis er sein Ziel erreicht hat? Trickst er alle um sein Wohl Bemühten aus, indem er sich ihren Vorstellungen gemäß verhält? Le jeune Ahmed spannt sein Publikum bis zum allerletzten Bild auf die Folter. Fast meint man, die Dardennes entdecken den innersten Kern ihres Helden erst selbst ganz am Ende. (Dominik Kamalzadeh, 18.9.2020)