Es braucht zukunftsorientierte Ansätze, sagt der Soziologe Jörg Flecker. Die Blockaden sind groß.

Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch. Obwohl die Kurzarbeit noch nicht beendet ist, kündigen Unternehmen bereits Personalabbau an. Der saisonale Rückgang der Beschäftigung im Winter lässt Schlimmes erwarten. Die Arbeitsmarktkrise ist zugleich eine gesellschaftliche Krise, weil die Arbeitsgesellschaft von ihren Mitgliedern erwartet, vor allem durch Erwerbsarbeit etwas beizutragen. Einem großen Teil der Bevölkerung wird aber die Möglichkeit dazu verwehrt. Die Betroffenen sind einer Stigmatisierung ausgesetzt und vielfach von Armut und sozialer Isolation bedroht.

Schon in den Jahren vor der Covid-19-Pandemie erreichte die Erwerbsarbeitslosigkeit in Österreich historische Höchstwerte. Der Arbeitsmarkt erfüllte schon länger seine Funktion nicht, allen Arbeitssuchenden Chancen auf eine umfassende Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Besonders jene, die nicht dem Idealbild des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin entsprechen, bleiben in einer solchen Situation sehr lange ohne Job oder fallen überhaupt auf Dauer aus dem Erwerbssystem heraus.

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Eine Verkürzung der Arbeitszeit würde die Erwerbsarbeit auf mehr Personen verteilen.
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Zuallererst Beschäftigungspolitik

Die Regierung reagierte darauf mit der Ankündigung einer Qualifizierungsoffensive. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist gut etabliert, Weiterbildung und Umschulung sind wichtige Maßnahmen, um die Chancen Arbeitsuchender zu verbessern. Es ist aber daran zu erinnern, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik in Schweden in einer Zeit der Vollbeschäftigung entwickelt wurde. Sie war als Ergänzung zur solidarischen Lohnpolitik konzipiert, die keine Rücksicht auf wirtschaftlich schwache Betriebe nahm und Entlassungen und Betriebsschließungen riskierte. Die betroffenen Arbeitskräfte wurden umgeschult, damit sie die vorhandenen freien Stellen einnehmen konnten.

Zwar begleiten Qualifizierungsmaßnahmen auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit den Strukturwandel. Geht es aber darum, Arbeitslosigkeit abzubauen, braucht es zuallererst Beschäftigungspolitik, also das Schaffen von Arbeitsplätzen im Unternehmenssektor, im öffentlichen Sektor, in den gemeinnützigen Organisationen oder auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Nur wenn es freie Arbeitsplätze gibt, hat die Qualifizierung Arbeitssuchender wirklich Sinn – auch subjektiv für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Kursen.

Bewusstes Schrumpfen

Was jedoch die Beschäftigungspolitik betrifft, setzt man noch immer auf ein ganz allgemeines Wirtschaftswachstum. Das ist angesichts der Klimakrise unangemessen. Und in einem Green New Deal hat das Wachstum in einzelnen Sektoren auch die Funktion, das bewusste Schrumpfen anderer Sektoren wettzumachen. Es braucht also weitere Strategien wie die Beschäftigung im öffentlichen Sektor und die Umverteilung der Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung.

Studien zeigen einen erheblichen Personalbedarf bei Bildung, Gesundheit, Pflege, Kinderbetreuung, öffentlichem Verkehr und Justiz auf. Allein die Behebung dieses Personalmangels könnte die Arbeitslosigkeit ein gutes Stück abbauen. Der zusätzliche Vorteil: Man kann dringende gesellschaftliche Bedarfe unmittelbar decken. Man kennt den Bedarf und kann Qualifizierungsmaßnahmen daran ausrichten.

Politischer Widerstand

Hätten wir nach wie vor eine 48-Stunden-Woche und weniger Urlaub, wären deutlich weniger Personen beschäftigt. Im 20. Jahrhundert wurde die Arbeitszeit kontinuierlich und schrittweise verkürzt, wodurch sich die Erwerbsarbeit auf mehr Personen verteilte. Dieser Prozess kam in Österreich schon vor mehr als 30 Jahren zum Stillstand – trotz der weiteren Zunahme der Produktivität und des kontinuierlichen und massiven Anstiegs der Arbeitslosigkeit bis 2016. Aus Studien weiß man, dass Arbeitszeitverkürzung mittelfristig betrachtet und bei einer vorübergehenden Förderung der Betriebe nachhaltig Beschäftigung schafft. Zugleich können auch andere wichtige gesellschaftliche Ziele damit verfolgt werden: mehr Geschlechtergerechtigkeit, bessere Gesundheit, Zeit für Weiterbildung.

Obwohl öffentliche Beschäftigungspolitik und Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze schaffen und helfen würden, akute gesellschaftliche Probleme zu lösen, ist der politische Widerstand gegen diese Maßnahmen groß. Nur für die Pflege will die Regierung zusätzliche Stellen finanzieren. ÖVP und Wirtschaftskammer beharren auf marktkonformen Lösungen, die den Unternehmen unmittelbare Vorteile bringen. So werden als "echte Arbeitsplätze" jene in Privatunternehmen bezeichnet, während die Beschäftigung im öffentlichen Sektor, in Non-Profit-Organisationen und auf dem zweiten Arbeitsmarkt als "künstlich" diskreditiert wird.

Zukunftsorientierte Ansätze

Akzeptiert wird damit weitgehend nur, was durch das Nadelöhr der Möglichkeit privater Gewinnerzielung geht. Eine solche neoliberale Politik engt die Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft enorm ein, obwohl sie selbst – durch die Verursachung der Finanz- und Wirtschaftskrise oder den Kürzungen im öffentlichen Sektor – zu den Problemen beigetragen hat. Stattdessen braucht es zukunftsorientierte Ansätze. Ohne den Handlungsspielraum der Politik wieder deutlich zu erweitern und die Möglichkeit zu schaffen, gesellschaftliche Probleme unmittelbar und nicht nur über den Umweg von Unternehmensinteressen zu lösen, wird die gegenwärtige soziale Krise nicht zu bewältigen sein. (Jörg Flecker, 18.9.2020)