Tanja Paar: auf neuen literarischen Wegen.

Foto: Pamela Rußmann

Eine schwangere Frau wird verlassen. Das ist keine Seltenheit, weder in der Literatur noch im wahren Leben. Maria, Hauptfigur im soeben erschienenen Roman Die zitternde Welt (Haymon) der österreichischen Schriftstellerin Tanja Paar, nimmt allerdings einen sehr weiten Weg auf sich, um ihren Wilhelm, Eisenbahningenieur, an seine Verantwortung als Vater zu erinnern.

Der jungen Frau liegt nur ein Brief mit vagen Erklärungen vor, Wilhelms genauer Aufenthaltsort ist ihr nicht bekannt. Maria will diese Unverbindlichkeit nicht hinnehmen und reist im Jahr 1896 in die Fremde, nach Anatolien, denn "mit dem ledigen Kind wäre sie schlicht und einfach verhungert oder hätte es auf irgendeinen Bauernhof weggeben müssen, wie so viele andere".

Tanja Paar, die mit ihrem 2018 erschienenen Debüt Die Unversehrten (Haymon) die Tragödie einer Patchworkfamilie heutiger Tage sezierte, rückt nun in ihrem präzise recherchierten zweiten Roman das Osmanische Reich des Fin de Siècle in unsere unmittelbare Nähe und geht damit einen neuen literarischen Weg.

Gefährdung der Idylle

Zunächst taucht man ein in eine Welt voller Dienstboten, Hauslehrer und edler Stoffballen, die von den Händen flinker Schneidermeister in modische Roben verwandelt werden. Wilhelm entscheidet sich für Maria, obwohl er sich als verlässlicher Langweiler entpuppt.

Trotzdem genießt die junge Mutter das Landleben in Bünyan, ihr, wie sie es nennt, "anatolisches Paradies", bekommt weitere Kinder, fällt aber durch modische und amouröse Eskapaden auf. Maria nimmt sich Freiheiten, ohne ihren Mann dafür um Erlaubnis zu bitten.

Man ahnt die unabwendbaren Konflikte und die Gefährdung dieser Idylle durch den herannahenden Ersten Weltkrieg. Der klug gewählte Titel Die zitternde Welt ist wohl auch als literarisches Programm zu lesen, denn Tanja Paars Figuren werden von einem Zittern erfasst, das schließlich zu einem Erdbeben anwächst, von dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Schillernde orientalische Welt

Maria ist eine Figur, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint, zu modern sind ihre Ambitionen. Das erzeugt bei der Lektüre Spannung, man will dieser Frau folgen, sehen, wie sie ihren Garten bestellt und ihrem Mann dabei selbstbewusst entgegnet: "Ich bin keine Dame. Und ich will auch keine sein."

Während Wilhelm als Ingenieur beim Bau der Bagdadbahn beruflich aufsteigt, erkennt Maria, dass die Ehe ein reines Vernunftbündnis ist, das im Widerspruch zur romantischen Liebe steht. Noch immer lebenshungrig, beginnt sie beim Ausreiten eine Affäre mit dem Hauslehrer ihrer Söhne, der aber in ihrem Versteck vom Bau eines Staudamms spricht, anstatt ihr Komplimente zu machen. Humorvoll schildert Tanja Paar diese Liebesszene auf einem unbequem nassen Boden, legt Maria diesen kecken Satz in den Mund: "Sie haben die Gabe, aus den schönsten Momenten eine Tragödie zu machen."

Eine stringente wie eigenständige Erzählstimme trägt diesen Roman, der das Leben einer Frau, aber auch ihrer drei Kinder Hans, Erich und Irmgard erzählt, die ihre Individualität leben wollen, aber von Schicksalsschlägen gebeutelt werden.

Obwohl Maria Widerstand leistet, schleichen sich Asymmetrien in ihre Beziehung ein. Eine Schlüsselszene ist die feierliche Eröffnung eines Abschnitts der Bagdadbahn. Maria steht in der zweiten Reihe, und der Lesende wird Zeuge ihrer bitteren Erkenntnis: "Die Bagdadbahn war eine staatstragende Angelegenheit und dabei hatten Frauen nichts verloren."

Bezüge zur Weltliteratur

Unaufdringlich stellt Tanja Paar Bezüge zur Weltliteratur her, etwa zu dem 1857 veröffentlichten Gesellschaftsroman Madame Bovary von Gustave Flaubert. Er handelt von der gelangweilten Arztgattin Emma Bovary, ihren Liebesaffären und ihrem Selbstmord. Dieses Buch legt Paar ihrer Hauptfigur Maria ans Herz, lässt sie darüber reflektieren.

Maria entwickelt wenig Verständnis für Madame Bovary, ihrer Freundin verrät sie aber, dass sie sich oft genauso dumm und ungebildet fühlen würde, was nicht stimmt, denn in Wahrheit ist Maria eine "Anti-Madame-Bovary", und das, obwohl die Lebenswege dieser beiden Frauenfiguren zaghafte Berührungspunkte aufweisen.

Tanja Paar, "Die zitternde Welt". 22,90 Euro / 300 Seiten. Haymon, 2020

Trotz seiner historischen Dimension bewahrt Die zitternde Welt allgemeine Gültigkeit, denn auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben mögen, das menschliche Empfinden bleibt eine Konstante. Das Verschwinden des Geliebten zieht sich leitmotivisch durch diesen Text, da stößt man etwa auf einen erkenntnisreichen Satz über den Verlust: "Niemand, der diesen Schmerz nicht empfunden hat, versteht ihn, und alle, die ihn überwunden haben, schauen staunend zurück, so, als wäre er unerreichbar."

Tanja Paar legt auch Marias Sohn Erich apodiktische Sätze wie "Der Krieg ist wie ein Feuer, das sich selbst nährt und immer größer wird" in den Mund, und damit lässt sich auch die politische Botschaft dieses Romans erkennen, den man nach seiner Lektüre mit zitternden Händen ins Regal stellt. (Gerlinde Tamerl, 19.9.2020)