Intellektuelle grüne Wucht: Reisen in den eigenen Garten.

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Nicht reisen? Nicht reisen wollen, können oder sollen wie dieser Tage? Gab es das schon einmal? Aber ja. Und zwar als Ratschlag mit – Unterschied zu heute – Eleganz, Verve und intellektuell grüner Wucht.

Es sind: die 59 Briefe, die Alphonse Karr 1845 zur Reise um meinen Garten arrangierte. Die Episteln sendet ein Anonymus mit großem Garten an einen Freund, der, ach, auf Weltreise ist und dabei viel weniger sieht und keine Abenteuer erlebt wie der Schreiber zu Hause in seinem Garten, im Gras, unterm Baum, zwischen Blumen, Insekten und Vögeln.

Alphonse Karr, "Reise um meinen Garten. Ein Roman in Briefen". Mit einem Vorwort von Eduard Bodi. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. 45,30 Euro / 436 Seiten mit Abb. Die Andere Bibliothek, 2020
Cover: Andere Bibliothek

Alphonse Karr (1808–1889), Vater Deutscher, Mutter Französin, war vieles: Romancier, Autor fantastischer Erzählungen, Journalist in seiner Heimatstadt Paris, zwei Jahre lang Chefredakteur des Figaro, Gründer und Herausgeber (von 1838 bis 1876) der satirischen Zeitschrift Les Guepes (Die Wespen), Fischer, Exzentriker.

Zimmerreisen

1841 ließ er sich in der Normandie nieder, übersiedelte 1851 nach Nizza, dort war er Agronom und erfolgreicher Blumenzüchter – währenddessen schrieb und schrieb er –, und 1867 nach Saint-Raphaël, der Hafenstadt zwischen Cannes und Saint-Tropez. Dort ist der Friedhof, auf dem er ruht, nach ihm benannt.

Einige wenige stießen vor zehn Jahren hierzulande auf Karr, in Bernd Stieglers wissenschaftlich seriöser, dennoch gewitzter Monografie über Zimmerreisen. Karr gab dem Genre der räumlich limitierten voyage eine Wendung – ins Grüne. Und ganz hinreißend ist die Sprachgewalt, die Leidenschaft, mit der Karr seinen hortus inamoratus, den Privatpark, in den er bis über alle grünen Daumen hinaus verliebt ist, schildert.

Überschäumend ist hier alles, überwältigend, betörend, klug, manches wissenschaftlich überholt, anderes überzeitlich. Und Karr ein ebenso großer Evokateur der Natur wie sein Landsmann Jean-Henri Fabre, der Homer der Insektenwelt: "Der Himmel nimmt eine rosa Farbe an; die grauen Wolken werden blasslila; der Osten erblüht in einem leuchtenden Gelb; die grauen Stämme der im Westen stehenden Kirschbäume nehmen unter den ersten schrägen Sonnenstrahlen eine rosa Farbe an. Das Gestirn des Tages, das Gestirn des Lebens geht in seinem Ruhm und seiner Herrlichkeit auf, ein Feuerball erhebt sich am Horizont."

Der Berliner Gestalter Glenn Vincent Kraft hat dem Band, sehr gut übersetzt von Caroline Vollmann, ein reizvolles Buchkleid geschneidert und Eduard Bodi, Gärtner der Giardini Reali in Venedig, ein persönliches Vorwort beigesteuert.

Sechs Jahre nach Karrs Tod, 1895, kam Ernst Jünger zur Welt. Da regierte Kaiser Franz Joseph seit 47 Jahren. Als Jünger 1998 fünf Wochen vor seinem 103. Geburtstag starb, war Viktor Klima Kanzler, es gab Internet, E-Mail und seit drei Monaten Apples Powerbook G3.

Ernst Jünger, "Geheime Feste. Naturbetrachtungen". Hrsg. von Alexander Pschera. 25,90 Euro / 280 Seiten mit Abb. Klett-Cotta-Verlag, 2020
Cover: Klett-Cotta

Seit 1951 lebte der Apothekersohn in einem barocken einstigen Forsthaus mit großem Garten im Ort Wilflingen in Oberschwaben; heute ist im Gebäude ein ihm gewidmetes Museum untergebracht.

Waldgänger

Jünger wollte immer schreiben wie der von ihm verehrte alte Goethe. So lag es nahe, dass ihm 1982 die Stadt Frankfurt am Main den Goethepreis verlieh – was einen gewaltigen publizistischen Proteststurm entfachte.

Man will sich gar nicht vorstellen, wie das heute aussähe! Denn Jünger war alles, was aktuell auf jeder Cancel-Culture-Liste ganz oben steht: antiliberal, antidemokratisch, in den 1920ern maskulin elitärer Vordenker des Faschismus, der sich von den Nazis nur deshalb abwandte, weil diese ihm zu "plebejisch" waren, soldatisch, selbst erklärter "Anarch" und Waldgänger abseits aller politischen Strömungen, in seiner Antipolitik absichtlich außerzeitlich, weil verdrossen stoisch Nachkriegsmoderne, Republik, Konsumgesellschaft registrierend.

Jüngers Hausverlag Klett-Cotta hat sich angestrengt. Denn so wie auch Karrs Band würde sich das Lesebuch Geheime Feste für jeden Das-schönste-Buch-Bewerb qualifizieren. Grafikerin Marion Köster hat die Auswahl, die der Essayist Alexander Pschera traf, seines Zeichens Erster Vorsitzender der Ernst-und-Friedrich-Georg-Jünger-Gesellschaft sowie Übersetzer und Editor von Werken des reaktionär-katholischen Franzosen Léon Bloy, typografisch mit Schmuckelementen und Farbe gestaltet und Illustrationen eingestreut.

Sinnig ist die Anordnung: sieben Kapitel, einsetzend mit den Jahreszeiten folgenden Heimaterkundungen, auf die Auszüge aus seinen Reisen rund um den Globus, von Sardinien bis Nordafrika und in die Tropen, folgen, um schließlich alles im Garten enden zu lassen.

Man merkt deutlich Sprach-, Mentalitäts- und Temperaturunterschiede zu Karr. 1982 attestierte der deutsche Feuilletonist Fritz J. Raddatz Jünger, er strebe nach einem marmornen Stil, rühre häufig aber nur Gips an.

Tatsächlich fällt an vielen Stellen auf, dass ihm die Sprachkraft Karrs und dessen Lebendigkeit abgeht. Allzu oft hat man das Gefühl, hier räuspert sich kein souveräner citoyen des Gartens, sondern ein Kleinbürger, der, um große Gedanken anzukündigen, sich die Ärmelschoner zurechtrückt – und dann überschaubar Originelles von sich gibt.

Bienen und Blüten

Erstaunlich häufig enden die Naturschilderungen mit flacher Vermenschlichung. Und doch findet sich fein Beobachtetes: "Im Garten noch letzte Rosen und Chrysanthemen, auch Polster von fremden Herbstzeitlosen und späte, amethystene Krokusse mit spitzen Kelchen, die zarter und vereinzelt blühen. Noch fliegen Bienen die Blüten in der Mittagssonne an, und kleine, braune Schwärmer in der Dämmerung. Gleich vor der Gartentür, herrlich; eine mannshohe Aster mit dichtem lila Schopfe über einem Mantel aus hinsterbendem Gelb. Die Palette von Toulouse-Lautrec."

Wer will da noch außer Garten reisen? (Alexander Kluy, 19.9.2020)