Kaum mehr Luft nach oben: Der US-Streaminganbieter Netflix hat im Frühjahr an der Börse den Unterhaltungsriesen Walt Disney überholt.

Ein Mann mit Vokuhila, Hang zum Gesetzesbruch und ein paar Dutzend Tiger: Joe Exotic konnte man sich im Frühjahr kaum entziehen. Die Netflix-Doku "Tiger King" wurde im ersten Monat nach dem Start von 64 Millionen Konten gestreamt. Naheliegend: Im Lockdown verbrachten viele ihre Abende vor Netflix auf der Couch.

Der US-Streaminganbieter profitiert von der Krise, auch wenn der hohe Kundenzustrom etwas abebbt. Ende Juni zählte das Unternehmen 193 Millionen Bezahlabos. Mit einem Börsenwert von zeitweise 232 Milliarden US-Dollar zog Netflix als weltgrößter Unterhaltungskonzern zuletzt sogar an Walt Disney vorbei.

Überhaupt hat Netflix die Art und Weise, wie wir Serien und Filme konsumieren, verändert – und damit die gesamte Industrie umgekrempelt. Anfangs lief aber alles analog: Ab 1997 verschickte die Online-Videothek DVDs per Post – etwa zwei Millionen Abonnenten nutzen diesen Dienst immer noch. Zehn Jahre später gelang der Einstieg ins Digitale, zuerst mit dem Streaming alter TV-Serien, dann mit Originalproduktionen externer Studios. Und schließlich mauserte sich Netflix zum Produzenten von Eigenkreationen wie "Stranger Things", "Haus des Geldes" oder "Roma".

Das Erfolgsrezept

Co-CEO Reed Hastings gibt im Buch "Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist" Einblick in die Unternehmenskultur.
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Was macht Netflix so erfolgreich, wandlungsfähig und innovativ? Darüber soll das neue Buch "Keine Regeln. Was Netflix so erfolgreich macht" Aufschluss geben. In dialogischer, anekdotischer Form beschreiben Co-CEO Reed Hastings und – aus dem externen Blickwinkel – Erin Meyer, Autorin und Professorin an der Insead Business School in Paris, in zehn Schritten das Erfolgsrezept. Der Titel legt es bereits nahe: Es gibt nur eine Regel: keine Regeln.

Die Unternehmenskultur einer Firma – und damit die zugrunde liegenden Regeln – ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur deshalb relevanter geworden, weil so Top-Arbeitskräfte angelockt werden sollen. Sondern auch, weil sie – in gelebter Form – laut Studien positiv zur Performance der Mitarbeitenden und Firma beiträgt. Oft erweisen sich die Slogans in Bürogängen und Jahresberichten aber als leere Worte.

Bei Netflix scheint das nicht so zu sein. Hastings erklärt den Wandel zur Netflix-Kultur am Beispiel seiner vorigen Firma, einem IT-Unternehmen: Als dieses wuchs, gab es immer mehr Regeln. Das führte dazu, dass jene befördert wurden, die "nie über die Linien malten, während sich viele unangepasste, kreative Personen erstickt fühlten und einen neuen Job suchten." Die Folge: Die Firma gewann zwar Effizienz, büßte aber nicht nur an Kreativität ein, sondern auch an Innovation und Flexibilität. Letztlich konnte sie sich nicht an eine neue Programmiersprache anpassen – und wurde an den größten Konkurrenten verkauft. So sollte es Netflix nicht gehen.

Hohe Talentdichte

Dafür baute Hastings ein Fundament aus drei Komponenten. Erstens: eine hohe Talentdichte. Ähnlich einer Sportmannschaft in der ersten Liga sollen Top-Mitarbeitende in Dream-Teams Spitzenleistungen erzielen und dafür hohe Gehälter kassieren. Besser eine Gute einstellen, die mehr Wertschöpfung für die Firma bringt, als zehn durchschnittliche Mitarbeiter, lautet die Devise.

Wer aber ein "umgänglicher Kollege ohne hervorragende Leistung" ist, dem droht die Kündigung. Genauso sollte man sich, laut Hastings, von "Kotzbrocken, Faulenzern oder Pessimisten" trennen, die die Leistung des Teams nivellierten. Dafür gibt es den umstrittenen Keeper-Test, der online im Netflix Culture Deck einzusehen ist. Demnach sollen sich Manager fragen, welche Mitarbeitenden sie unbedingt halten würden, wenn diese sagten, sie wollen beim Konkurrenten einen ähnlichen Job übernehmen. Wer verzichtbar ist, muss gehen – mit einer hohen Abfindung.

Zu mehr Fluktuation führe das aber nicht, analysiert Meyer: Sie liegt bei zwölf Prozent pro Jahr, was dem Marktdurchschnitt entspreche. Dennoch kann der Keeper-Test Mitarbeitende in stete Angst vor dem Jobverlust versetzen. Dem könne man etwa entgegenwirken, sagt Hastings, indem man regelmäßig frage, wie man dasteht.

Alle bekommen Feedback

Die zweite Säule: Offenheit. Dazu zählt nicht nur häufiges Feedback unter Kollegen, sondern auch gegenüber Führungskräften. So soll gegenseitige Verantwortung entstehen. Auch haben alle Zugang zu sensiblen Infos wie Bilanzen, die anderswo als Firmengeheimnis gelten, um eigenständig Entscheidungen zu treffen. Und die dritte, daraus resultierende Säule: weniger Kontrolle. Bei Netflix entscheiden die Angestellten selbst, wie oft und wie lange sie Urlaub haben oder schließen eigenverantwortlich Deals in Millionenhöhe. Fielen Genehmigungsverfahren weg, könnten Chefs mit Kontext führen, nicht durch Kontrolle, meint Hastings. Klarerweise funktioniert so ein Ansatz im Kreativbereich besser als etwa in der Medizin oder Atomforschung, wo Fehler vermieden werden sollten.

Wie das in der Praxis aussieht, hat Meyer zusammengetragen. Sie interviewte 200 Mitarbeitende – und das macht das Buch aus. Anhand konkreter Beispiele liest man, wie Angestellte die Netflix-Feedback-Kultur lernen und Chefs in Konferenzen die Stirn bieten; wie die Social-Media-Expertin eine Kampagne vermasselt und ihre Fehler ins Rampenlicht stellte, statt sie zu vertuschen; oder wie kommuniziert wird, dass jemand die Firma verlassen muss.

Übrigens: Ganz ohne Regeln geht es bei Netflix aber nicht. Nämlich dort, wo Fehlervermeidung wichtiger ist als Innovation. Etwa, für den Quartalsbericht oder um Angestellte vor sexueller Belästigung zu schützen. (Selina Thaler, 19.9.2020)