Der Druck der Corona-bedingten Ausnahmesituation hält in vielen Unternehmen an. Viele sind in den Überlebensmodus gedrängt, sagt der Arbeitspsychologe Johann Beran.

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Der Druck der Corona-bedingten Ausnahmesituation hält in vielen Unternehmen an. Die Ampelkommission hat mit dem Umschalten der Corona-Ampel auf Orange in sieben Regionen, in Wien und Innsbruck, auch in Betrieben Folgen gezeitigt: Kongresse und große Weiterbildungsveranstaltungen, voller Zuversicht angesetzt für die kommenden Wochen, wurden kurzfristig erneut verschoben oder abgesagt. Teams, zurück ins Büro beordert, wurden – nach Appell von Regierung und Sozialpartnern – wieder ins Homeoffice geschickt. Mund-Nasen-Schutz auch am Arbeitsplatz wird nun (wieder) strenger gehandhabt.

Die aktuelle öffentliche Diskussion über erwartete Pleitewellen, steigende Arbeitslosigkeit und sich weiter festsetzende Arbeitslosigkeit trägt das ihre zur Verunsicherung bei. Der Arbeitspsychologe Johann Beran arbeitet seit März mit Unternehmen und Belegschaften am bestmöglichen Umgang damit.

STANDARD: Was spielt sich derzeit intern in Firmen ab, wie geht es Menschen dort, wo Sie als Psychologe arbeiten?

Für Hannes Beran nehmen Konflikte in Teams zu, weil Angstgruppen und Verdrängergruppen entstehen.
Thomas Poelz

Beran: Viele sind in den Überlebensmodus gedrängt. Das ist noch nicht die Masse, aber es verstärkt sich. Wir laufen insgesamt mehr und mehr über in eine überforderte Gesellschaft. Es macht sich deutlich bemerkbar: Der Druck ist schwerer auszuhalten. Wir haben ja auch nie und nirgends gelernt, mit dieser Pandemie umzugehen.

STANDARD: Was bedeutet Lernen in diesem Zusammenhang?

Beran: Allgemeine Handlungsanweisungen können nicht wirklich greifen – auch wenn sie klar sein sollten, was sie allerdings ja auch nicht sind. Es ist nicht eindeutig, es ist alles mehrdeutig und komplex. Wir nehmen wahr, aber es sind immer unsere eigenen Bilder der Wahrnehmung, es ist für jeden etwas anderes und keine einheitliche, gleiche Wahrnehmung, weil wir alles auf dem Boden unserer individuellen Prägung wahrnehmen. Wir verknüpfen Informationen mit uns jeweils bereits bekannten Bildern – bis hin zu Horrorfilmen, die wir gesehen haben – und machen uns daraus unser eigenes Bild. So erklären sich beispielsweise die extremen Positionen zum Mund-Nasen-Schutz. Die einen finden ihn lächerlich und nur störend, die anderen fühlen sich angegriffen, wenn ihn jemand nicht tragen will.

STANDARD: Und wenn wir gemeinsam nachdenken, miteinander reden würden, uns einander erklären würden?

Beran: Gute Idee! Aber das tun wir ja nicht. Wir hören nicht wirklich zu, wir denken nicht wirklich nach, und wir haben nicht gelernt, uns einander zu erklären. Der Effizienzdrill in Unternehmen, wo jede Sekunde produktiv verwertet werden muss, verhindert das zusätzlich. Das Gehirn kann nur, was es gelernt hat, nicht was es sich wünscht zu können. Und lernen braucht viel, viel Übung und Zeit. Wo haben wir die in Arbeitsabläufen?

STANDARD: Eine Erklärung für die zunehmenden Konflikte in Teams?

Beran: Sicher. Es entstehen Angstgruppen und Verdrängergruppen. Zwei Feindbilder, die einander zuerst in Missverständnissen begegnen – das führt schleichend zum Krieg, es ist ein schleichender Prozess. Videokonferenzen sind dann ja oft auch so, als würde man irgendwo schnell hingebeamt. Wie im Raumschiff, wo die anderen dann mit gezogener Waffe urplötzlich vor einem stehen. Dann geht's los. Im Überlebensmodus geht nur Flüchten oder Kämpfen im Gehirn. Erstarren ist auch noch möglich. Aber da der Frontallappen, der für Kontrolle zuständig ist, in diesem Modus schwächer durchblutet ist, hat man in diesem Zustand keine andere Chance zu handeln.

STANDARD: Was empfehlen Sie, oder sind wir diesen Gehirnfunktionen chancenlos ausgeliefert?

Beran: Bei Videomeetings ist Social Clearing wichtig. Das heißt, reinpendeln mit einer kleinen Plauderei, rauspendeln mit ein paar verbindlichen, freundlichen Worten. In Unternehmen, die vor Corona eine entsprechende Unternehmenskultur hatten, funktionieren Beziehungsbeauftragte gut. Man muss die Leute sich auskotzen lassen. Mit der Frage "Was nervt euch?" lässt sich das gut starten, dann geht es darum, die Wünsche auch übersetzen zu lassen – jene an die Chefs, die Organisation, die Kollegen, aber auch jene an mich selbst. Aber wann, wenn nicht jetzt, will ich auf meine Organisation genau hinsehen? Corona ist eine Lupe, ein Verstärker für alles, was davor schon da war, und daher eine enorme Chance für Lernen, für Veränderung. (Karin Bauer, 22.9.2020)