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Man fragt sich: Was wird dann erst im Herbst und Winter auf uns zukommen, wenn sich das Leben nach drinnen verlagert und sich das Coronavirus mit der Grippe ein Ansteckungsmatch liefert?

Foto: Getty Images / Halfpoint Images

Es hat schon eine gewisse Ironie, dass der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober am Donnerstag einen Pressetermin ausgerechnet bei einem Optiker startete. Zuletzt schien der türkis-grünen Regierung nämlich die Weitsicht in der Corona-Krise zu fehlen. Von den stark ansteigenden Infektionszahlen wirkte sie überrumpelt. Fast schon zu perfekt passte die Szene beim Lokalaugenschein, als Anschober noch schnell ein Putztuch für seine Brille orderte, es gleich ausprobierte und fast überrascht dabei wirkte, als er sagte: "Funktioniert."

Dieser kurze Satz kommt Anschober seit dem Ende der Sommerpause nämlich kaum noch über die Lippen. Die Corona-Ampel, das Prestigeprojekt des Ministers für die herausfordernde Zeit im Herbst und Winter, hat nach nur zwei Schaltungen bloß noch eine symbolhafte Wirkung und sorgte bisher mehr für Verwirrung als für Klarheit.

Irritierend wirkte auch der radikale Schwenk von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) – vom Hoffnungskurs mit "Licht am Ende des Tunnels" hin zur plötzlichen Ausrufung der zweiten Welle samt schärferen Maßnahmen im Eiltempo.

Die Infektionszahlen stiegen schon in den Wochen davor bedenklich an – nur war politisch keine Rede davon. Erst als sich die Situation unübersehbar zuspitzte, lieferte Anschober diese Woche in der ZiB 2 einen ersten harten Ausblick, wonach es auch eine Prognose gebe, die von 1300 Neuinfektionen pro Tag ausgehe.

Es wirkt so, als hätte die Regierung nicht damit gerechnet, dass ihr das Infektionsgeschehen schon jetzt Probleme machen wird, und als probierte sie nun hektisch, den größten Schaden abzuwenden. Man fragt sich: Was wird dann erst im Herbst und Winter auf uns zukommen, wenn sich das Leben nach drinnen verlagert und sich das Coronavirus mit der Grippe ein Ansteckungsmatch liefert?

Das Coronavirus und das Wetter

Doch auch für die Experten in den Krisenstäben war der aktuelle Anstieg der Infektionszahlen schwer abzusehen. Ein " gewisses Grundrauschen" habe sich zwar unter anderem durch die stärkere Reiseaktivität im Sommer abgezeichnet, ob und wann und in welchem Ausmaß dies aber zu einem Niveausprung in den Fallzahlen ein paar Wochen darauf führen würde, lasse sich anhand der Prognosemodelle nicht beantworten.

Das sagt unter anderem einer, der es genau wissen muss: Herwig Ostermann, Geschäftsführer von Gesundheit Österreich. Er erstellt gemeinsam mit Vertretern der TU Wien und der Medizinischen Universität Wien die Prognosen für den Gesundheitsminister.

Ostermann spricht aber nicht von einer zweiten Welle, sondern von einer neuen Phase. "Die Welle ist ein Bild, das man in den Köpfen verankert und einen bestimmten Verlauf suggeriert", sagt der Gesundheitswissenschafter. "Aber wir sind definitiv in einer Phase, in der die Pandemie wieder eine Dynamik aufweist. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass das Infektionsgeschehen derzeit ähnlich unkontrolliert verläuft wie im März."

Viele Parameter

Die Betonung liegt auf "derzeit". Denn der Blick in die Zukunft ist nur bedingt möglich. Für etwa zwei Wochen können Ostermann und sein Team nach vorn schauen. Dann wird es dunkler. "Man kann auch keine Prognose treffen, wie das Wetter im Frühjahr 2021 sein wird", sagt Ostermann.

Das Problem sei, dass die Vorausschauen große Unsicherheiten aufwiesen, weil sie von vielen Parametern wie dem gesellschaftlichen Verhalten im Allgemeinen abhängig seien oder im Speziellen davon, wie viel Interaktion in der Bevölkerung politisch überhaupt zugelassen werde. Darüber hinaus seien gesellschaftliche Netzwerke nicht homogen, erklärt Ostermann. Manche seien umtriebiger und würden das Virus breiter verteilen. In anderen versande die Infektionskette bereits in sich.

Nur so viel lasse sich für die nächsten Wochen sagen: "Niemand geht davon aus, dass die Infektionsstatistik zeitnah wieder bei 300 oder 400 Fällen pro Tag liegen wird", erklärt Ostermann. "Das optimistische Szenario ist, dass wir das derzeitige Niveau von etwa 800 Neuinfektionen pro Tag halten, wir sehen heute, dass wir uns dort ein bisschen einpendeln, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir ein Niveau von mehr als 1000 Fällen pro Tag oder sogar darüber hinaus erreichen."

Die Schwäche der reinen Fallzahl

Antonella Mei-Pochtler, Leiterin des Thinktanks im Kanzleramt, wagt mit dem Future Operations Clearing Board (FOCB) seit Beginn der Pandemie einen Blick in die ferne Zukunft. Für sie ist das Infektionsgeschehen "nicht total überraschend". Wichtig sei es nun, großflächige Screenings durchzuführen.

Als Beispiel nennt sie die Massentests an der WU, wo vor den Einführungsvorlesungen tausende Studenten getestet wurden. Die entscheidende Frage sei, ob man es schaffe, "zeitnäher zu reagieren", sagt Mei-Pochtler. Wenn man die sogenannten "nichtmedizinischen Interventionen" gezielt stärke, komme man gut durch den Herbst, so die Thinktank-Leiterin.

Ähnlich sieht das Daniela Schmid, die leitende Epidemiologin der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages). Sie sitzt in der Expertenkommission des Gesundheitsressorts. Es gebe drei Aussichtsmodelle, die niedrigere und höhere Werte aufwiesen.

Was in die Prognosen einfließen könnte, seien Parameter, die das exponentiellene Wachstum des Coronavirus beeinflussen, erklärt sie. Im Wesentlichen, wie schnell die Isolation eines Erkrankten erfolgt und Kontaktpersonen in Quarantäne genommen werden können. "Wenn das schnell passiert, sinddiese Fälle geringere Quellen für weitere Ansteckungen", sagt Schmid. "Die Aussagekraft der Fallzahl könnte dadurch erhöht werden."

Ausreichend Ressourcen für Tests

Jedes Bundesland müsse danach trachten, dass es für Tests und Monitoring ausreichend Ressourcen zur Verfügung habe, fordert Schmid. Wien kündigte erst kürzlich an, seine Mitarbeiter im Corona-Bereich um 1000 weitere Personen aufstocken zu wollen – allerdings passierte dies erst, als die Zahlen in der Hauptstadt schon rapide anstiegen.

Was sich zeigt, ist, dass die Infektionen von Urlaubsrückkehrern langsam zurückgehen. Dafür tritt das Coronavirus noch häufiger in privaten Haushalten und der Hotellerie und Gastronomie auf. Was heißt das für den Tourismus? Mei-Pochtler ist mit dem "Handling der Situation" im Sommertourismus recht zufrieden. Aber: Die Reisewarnungen helfen nicht, den Wintertourismus anzukurbeln.

Auch abseits des gesundheitlichen Fokus werde die Krise also weiterhin für Herausforderungen sorgen, sagt Mei-Pochtler. Neue Ansätze für die Bekämpfung der Wirtschaftskrise soll ein im Oktober erscheinendes Paper des Boards liefern.

Ein großer Unsicherheitsfaktor vom Frühjahr sei aber derzeit kein Problem: In puncto Versorgungssicherheit – Stichwort Germ – ist man laut Mei-Pochtler im Herbst bestens vorbereitet. (Jan Michael Marchart, Fabian Schmid, 19.9.2020)