Das Interview hat noch gar nicht richtig begonnen, da stockt Rudolf Anschober plötzlich mitten im Satz. "Lässiges Motiv", ruft er der STANDARD-Fotografin zu, die ihn gerade über die Äpfel auf dem Obstteller hinweg ablichten möchte. "Durch Insta" – er meint die Foto-Plattform Instagram – habe der Gesundheitsminister gelernt, auch "fotografisch mitzudenken". Das Bild mit den Äpfeln sehe er schon vor seinem geistigen Auge, sagt er. Dann wird es schnell wieder ernst.

STANDARD: Es ist schon besser gelaufen.

Anschober: Na ja, wir haben gewusst, dass der Herbst eine schwierige Phase wird, wo sehr viel auf uns zukommt – zum letzten Mal, das ist meine Hoffnung ...

"Es braucht halt immer eine Balance zwischen intaktem öffentlichem Leben und dem, was aus Gesundheitssicht notwendig ist", sagt der langjährige Grünen-Politiker.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Ich spiele eigentlich auf das Krisenmanagement der Regierung an – zuerst die missglückten Verordnungen, jetzt das Ampelchaos.

Anschober: "Ampelchaos" ist der zugespitzte Begriff der Medien. Es ist doch immer so, wenn etwas Neues eingeführt wird, dass es eine Zeit braucht, bis sich das einspielt. Wir haben jetzt erstmals in Österreich hochprofessionell und evidenzbasiert eine umfassende Risikobewertung am Tisch. Und die versuchen wir auf Ampelfarben zu übersetzen, um es für die Bevölkerung leicht verständlich zu machen. Es war zu erwarten, dass die eine oder andere Region, die gelb oder orange gestellt wird, nicht in Jubel ausbricht.

STANDARD: Das Problem ist aber doch viel mehr, dass es sich um ein politisch besetztes Gremium handelt, in dem zwischen Ländern und Ministerien gedealt wird, wer welche Farbe bekommt. Haben Sie die machtpolitische Dynamik unterschätzt?

Anschober: Auch das war nur die Startsituation. Wir hatten in den vergangenen zwei Sitzungen fast ausschließlich einstimmige Ergebnisse. Das heißt, dass die Kommissionsexperten zusammengewachsen sind. Es ist ein Team entstanden. Auch die Mitglieder aus den Ländern sind Fachleute, die man nicht unterschätzen darf.

STANDARD: Sie selbst hatten im Vorfeld angekündigt, dass jede Ampelfarbe Maßnahmen zugewiesen bekommt. Warum ist das nicht passiert?

Anschober: Die Empfehlungen der Kommission sind ja trotzdem unsere Arbeitsgrundlage. Alle Entscheidungen, die ich treffe, passieren in Abstimmung mit der Kommission und den Experten. Die Zahlen steigen derzeit früher als erwartet. Das liegt einerseits an den Reiserückkehrern und andererseits an regionalen Clusterbildungen vor allem in Bars und bei privaten Festen. Deshalb war die Empfehlung der Kommission, bundesweite Maßnahmen zu setzen, die das abfangen.

STANDARD: Ein anderes Tool, das nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, ist die Corona-App. Warum sind Sie dennoch gegen eine Registrierungspflicht in der Gastronomie, um Kontakte nachzuverfolgen?

Anschober: Bei fast allen Veranstaltungen wird das ohnehin freiwillig umgesetzt. Dort passiert das über Ticketreservierungssysteme. In der Gastronomie haben wir ein derartiges Vormerksystem nicht. Viele befürchten, dass das dort zu einer heillosen Zettelwirtschaft führen würde, die kaum Erfolge bringt. Es gibt auch Bedenken beim Datenschutz.

STANDARD: Können Sie es nachvollziehen, dass viele nicht verstehen, warum man nur zu zehnt im Gasthaus sitzen darf, aber Stadien gefüllt werden können?

Anschober: Ich kann verstehen, dass es diese Fragen gibt. Größere Veranstaltungen werden aber nur dann genehmigt, wenn Sitzplätze zugewiesen und professionelle Präventionskonzepte verwirklicht werden. Dadurch sinkt das Infektionsrisiko enorm. Es braucht halt immer eine Balance zwischen intaktem öffentlichem Leben und dem, was aus Gesundheitssicht notwendig ist.

"Eine Regierung ist dafür da, klare Linien vorzugeben. Vielleicht ist uns das im Sommer manchmal nicht ausreichend gelungen", sagt Gesundheitsminister Rudolf Anschober.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Zuletzt gab es oft Unstimmigkeiten – wie ist Ihr aktuelles Verhältnis zur ÖVP?

Anschober: Das Verhältnis ist ein gutes Arbeitsverhältnis. Natürlich haben wir manchmal unterschiedliche Einschätzungen und Meinungen – und es ist ein Hinarbeiten auf gemeinsame Lösungen notwendig. Eine Regierung ist dafür da, klare Linien vorzugeben. Vielleicht ist uns das im Sommer manchmal nicht ausreichend gelungen.

STANDARD: Der Kanzler spricht inzwischen von einer zweiten Welle und exponentiellem Wachstum. Wie dramatisch ist nun die aktuelle Situation?

Anschober: Die Situation ist zweifellos schwierig. Unsere Prognosen zeigen: Wir stehen an einer Weggabelung. Wir können stabil bleiben. Es gibt aber auch das Worst-Case-Szenario, dass wir bis Ende September auf 2500 Fälle pro Tag kommen. Das wäre dann tatsächlich exponentielles Wachstum und eine zweite Welle. An dem Punkt sind wir aber noch nicht. Und ich bin optimistisch, dass wir es vermeiden können, wenn die Bevölkerung die Maßnahmen wieder so mitträgt wie im Frühling.

STANDARD: Ihr Expertenrat sagt, dass mehr Tests möglich wären, wenn sie künftig auch beim Hausarzt durchgeführt werden. Soll das kommen?

Anschober: Ich halte das für notwendig und richtig. Wir sind da auch mit den Ärztinnen und Ärzten in einem guten Einvernehmen. Im Frühling hat uns dafür die Schutzkleidung gefehlt. Da ist die Situation jetzt viel besser. Deshalb sollte eine Testung analog zu 1450 künftig auch beim Arzt möglich sein. Derzeit erarbeiten wir die Rahmenbedingungen.

STANDARD: Anderes Thema: Kürzlich hat Sie ein Mediziner von Ärzte ohne Grenzen besucht, der vor einer Katastrophe in Moria warnte. War das also absehbar?

Anschober: Leider ja. Die von uns durchgesetzten Sofortmaßnahmen und die Versechsfachung der Hilfe vor Ort sind wichtig. Österreichs muss aber auch Teil der entstehenden Solidargemeinschaft werden, die Flüchtlinge aufnimmt. Das geht mit der ÖVP derzeit nicht. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich da nicht resigniere.

"Die Situation ist zweifellos schwierig."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wie viele Flüchtlinge kann Österreich pro Jahr aufnehmen, wenn man sie erfolgreich integrieren will?

Anschober: Wir können auf jeden Fall mehr leisten, als manche in der Politik glauben, weil auch eine große Mehrheit der österreichischen Bevölkerung ein großes Herz hat.

STANDARD: Sie haben in Oberösterreich mit der ÖVP koaliert, jetzt im Bund. Beneiden Sie manchmal Ihre Wiener Kollegen, die mit der SPÖ im Team sitzen?

Anschober: (lacht) Also, meine Meinung ist, dass Rot-Grün für Wien ein gutes Modell ist. Ich hoffe, im Wahlkampf wird wieder sichtbarer, dass wir mit Wien eine tolle Stadt haben. Ich habe sie in den vergangenen achteinhalb Monaten ein bisschen kennengelernt – wenn auch zu wenig. Aber ich spüre schon diese Lebenskultur von Wien, und die ist gut.

STANDARD: Sie sind vor einigen Jahren sehr offen mit Ihrer Burnout-Erkrankung umgegangen. Was tun Sie, um sich heute vor Überlastung zu schützen?

Anschober: Als mir 2012 die Energien ausgegangen sind, habe ich gelernt, was ich brauche, damit ich trotz Belastung bei Kräften bleibe. Das ist bei mir am Morgen der Rundgang mit meinem Hund, das ist eine Pause zum Qigong am Donaukanal. Es gibt mir aber auch einen Energieschub, dass so viele so hohes Vertrauen in mich setzen. Umgekehrt habe ich großes Vertrauen in die Bevölkerung, dass wir gemeinsam die nächsten Monate gut bewältigen. (Katharina Mittelstaedt, 18.9.2020)