Im Gastkommentar widmet sich Politik- und Medienberater Peter Plaikner dem türkisen Narrativ von der Eroberung der Stadt.

Erst die Schweizer und dann auch noch die Deutschen: Die Reisewarnungen vor Österreichs Metropole passen den Wahlkämpfern der ÖVP ins heimliche Konzept. Ihr Wien-Bashing ist nicht neu, aber von ungewohnter Breite und Ausdauer. Die türkise Regierungsriege setzt fort, was in Koalition mit der FPÖ begonnen hat, auch wenn es nun infolge gleichen Juniorpartners keine klare Alternative zur rot-grün geführten Stadt mehr signalisiert. Die Regionalisierung der Covid-19-Bekämpfung wirkt als Turbo dieses Desaster-plans, der ansonsten vor allem auf einem üblen Spiel mit Migration beruht.

Unheilige Allianz

Denn welches Wien wird hier vernadert? Jenes der 37 Prozent im Ausland Geborenen, deren Großteil ohnehin höchstens auf Bezirksebene stimmberechtigt ist. Viele frühere Rechtswähler fürchten diese Konkurrenz am Arbeitsmarkt und im sozialen Umfeld. Den braven Mittelstand, der zuletzt kaum die ÖVP angekreuzt hat, überfordert unterdessen ein multikultureller Wandel vom Kindergarten bis zum Altersheim. Als Pfleger ja, aber nicht als Gepflegte hätten Groß- wie Kleinbürger gerne die Migranten.

Für die neue Volkspartei des Sebastian Kurz ist diese unheilige Allianz des urbanen Wählerpotenzials ein Segen. Sie erlaubt kongruente Kommunikation für Bund und Land: Wien-Bashing mit Rot-Phobie. Es setzt bei Zukunftsverlierern und Fortschrittsverweigerern an, die nie akzeptierten, dass ihre Stadt anders ist, als sie es vor dem gefühlt ewigen Slogan kannten. In Restösterreich hat alles gegen Wien ohnehin eine ungebrochene Tradition.

Bild nicht mehr verfügbar.

1964 revoltierten diese Anti-Wien-Piraten gegen die Taufe eines neuen Bodenseeschiffs auf den Namen des früheren Bundespräsidenten Karl Renner.
Foto: Picturedesk / dpa

Lange Tradition

Als 1964 die Fußach-Affäre in Gewalt gegen die Taufe eines Bodenseeschiffs auf "Karl Renner" gipfelte, war dies ein Aufbegehren gegen den Zentralismus. Sein Synonym ist Wien. Das diktierte 1994 der Tiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner auch dechiffriert: "Wien soll nicht neidisch nach Westen blicken, sondern akzeptieren, dass wir eben fleißiger sind." Das signalisierte Jörg Haider, als er 2007 mit einem Freistaat Kärnten spekulierte. Dass ein Feindbild Wien = Bund zunehmend mit Brüssel = Union konkurriert, beschert dem Hauptstadt-Bashing von außen kaum Einbrüche. Es gibt genügend andere emotionale und rationale Facetten für diese verdichtete interne Version des global spürbaren österreichischen Minderwertigkeitskomplexes.

Eine Ursache dafür ist die Übermacht der Stadt im Staat, die seit 98 Jahren auch ein Land ist und alle Verwaltungsebenen dominiert. Das hatten die Deutschen mit Bonn und haben die Schweizer mit Bern anders organisiert – trotz und mangels Großstädten. Salzburg ist in Österreich auch infolge des historischen Glücks, keine Teilung in BRÖ und ÖDR erlebt zu haben, nicht zum Zug gekommen. Dass die Option Berechtigung hat, zeigt neben der geografischen Lage das Bruttoregionalprodukt. Nur in diesem Bundesland ist das Regio-BIP pro Kopf höher als in Wien. Ein Hauptgrund für externes Metropolen-Bashing – Schimpfstichwort "Wasserkopf" – ist immer materieller Neid. Er funktioniert emotional, weil das rationale Argument vom Nettozahler im Finanzausgleich schwer vermittelbar ist.

Politik der Gefühle

Die Schwarzen setzten schon vor ihrer türkisen Kaperung bundesweit auf eine Politik der Gefühle kontra Wien. In diesem Kontext ist die ÖVP-Westachse mit drei grünen Koalitionsbeteiligungen zu sehen, die Oberösterreich kaum noch einbezieht, wo der Regierungspartner umgekehrt wie im Bund gewechselt wurde. West gegen Ost mit dem Synonym Wien flutscht auch gut, weil die Alpenregion andere Nachbarn pflegt als die Donauländer. Den nach Deutschland und allenfalls Schweiz und Italien orientierten Vorarlbergern, Tirolern und Salzburgern sind die hauptstadtnahen Anrainerstaaten fremd. Sie leiden unter bundesparteilichen Perspektiven, die am Mondsee enden – vor allem der SPÖ, die wiederum mit Wien identifiziert wird. Seine Dominanz als Medienstandort verstärkt das Zerrbild. Viele fühlen sich von immobilen Sichtweisen aus dem Zentrum der Macht missverstanden.

"Wäre Österreich insgesamt ländlicher Raum, hätte die ÖVP die absolute Mehrheit. In einem komplett urbanen Staat käme sie nur auf ein Viertel."

Es braucht nicht erst den Zwiespalt gegenüber auch in Kitzbühel, am Wörthersee und im Ausseerland residierenden Wienern. Externe Aversion findet genügend Basis abseits des Zwischenmenschlichen und liefert ein ideales Spielfeld für Pingpong mit subtilem internem Bashing. Kurz und Co setzen dabei auf Polarisierung. Wäre Österreich insgesamt ländlicher Raum, hätte die ÖVP die absolute Mehrheit. In einem komplett urbanen Staat käme sie nur auf ein Viertel. Das türkise Narrativ zur Eroberung der Stadt bedient sich unterschwellig der Mär vom besseren Leben auf dem Land. Diesen Trugschluss stützen Ampelalarm und Reisewarnung. Dass solch eine Spekulation die von der SPÖ beschworene Liebe zur lebenswertesten aller Städte deutlich erkalten lässt, ist purer Poker. Doch die ÖVP muss ihn nicht gewinnen. Ihr Konzept ist auf ganz Österreich angelegt. Ein Viertel der Städte und die Hälfte vom Land reichen locker für parteiliche Vorherrschaft. Das Wien-Bashing endet nicht nach der Wahl.

Es ist ein Konzept mit taktischem statt strategischem Horizont. Die Urbanisierung steigt. Allerdings langsamer als die Polarisierung der Gesellschaft. Wer sie verstärkt, mag kurzfristige Wahlerfolge säen, zerstört aber langfristig das demokratische Gemeinwesen. Schlag nach bei Trump und den USA. (Peter Plaikner, 19.9.2020)