"Moria ist ein Prüfstein für die europäische Solidarität und auch für die Verbindlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention", so der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer im Gastkommentar.

"Es geht nicht um ein paar Kinder, es geht um die Menschlichkeit, die Europa zu Europa macht", schrieb Omar Khir Alanam kürzlich in einem Gastkommentar und brachte es damit auf den Punkt, was in Moria, auf dem Boden der Europäischen Union, auf dem Spiel steht. Die Flüchtlingskrise hat unsere Gesellschaft verändert, und mit der Corona-Krise erleben wir gleichsam eine zweite Veränderungswelle, welche die erste überlagert und deren Folgen verstärkt und noch bedrohlich verstärken wird.

In der allgemeinen Verunsicherung durch die Angst vor sozialem Abstieg und Identitätsverlust ist die Versuchung groß, auf eine Politik der "Versicherheitlichung" zu setzen, die auf die Ängste der Menschen fokussiert und reagiert. Der Spielraum für humanitäre Hilfe, etwa im Fall der Kinder von Moria, wird dementsprechend eng: "Hilfe vor Ort" heißt das Zauberwort des pragmatischen Realismus, der sich von jeglicher Utopie verabschiedet hat.

Nach dem Brand des Lagers Moria auf Lesbos wurden 12.000 Menschen obdachlos. Die Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger spaltet die EU.
Foto: AFP / Angelos Tzortzinis

Schwieriger Diskurs

In seinem Aufsatz Abschied von der Utopie betont Ernst Bloch die Bedeutung von utopischen Fernzielen: "Nichts glückt, wenn man keine Fernziele hat. Die Spannung fehlt, die Erregung fehlt, der Wille, die Begeisterung, die Leidenschaft fehlen, um sich für Nahziele einzusetzen." Ja, vielleicht erklärt das die unterschiedlichen Positionen in der Frage der Kinder von Moria und auch die Schwierigkeit, darüber mit der anderen Seite einen Diskurs zu führen. Realisten und Utopisten stehen einander gegenüber und reden aneinander vorbei – die einen sehen eiskalte, zynische Pragmatiker, die anderen hoffnungslos weltfremde Träumer. Sie unterscheiden sich auch in der Bewertung des Jahres 2015: für die einen eine Flüchtlingskatastrophe mit beängstigendem staatlichem Kontrollverlust, für die anderen eine "Kettenreaktion" der Menschlichkeit, mit Sternstunden für den Friedensnobelpreisträger EU.

Was ich 2015 in Vorarlberg erlebt habe, als Lustenauer Bürgermeister, als Bürger und auch als Mitglied des Caritas-Kuratoriums, ist hilfreich, wenn es darum geht, das einseitige Framing von 2015 als Katastrophe zu korrigieren, vor allem durch die eindrucksvolle Erfahrung, was die Zivilgesellschaft leisten kann und will, wenn es darum geht, Flüchtlingen Schutz und die Chance auf eine neue, sichere Heimat zu bieten. Dôsin ("Dasein") nennt sich das Netzwerk engagierter Lustenauerinnen und Lustenauer, das sich bis heute für diese Menschen starkmacht, ganz besonders für die Kinder.

Der "schaffige Wälder"

2015 war für mich auch das Jahr des Sicherheitslandesrats Erich Schwärzler, bei uns kurz "Landes-Erich" genannt. Der christlich-soziale, "schaffige Wälder" machte die Suche nach geeigneten Unterkünften zur Chefsache und nützte seine ausgezeichneten persönlichen Kontakte zu allen Gemeindechefs für das Ziel, in jeder Gemeinde Flüchtlinge unterzubringen. Wenn einer keine Flüchtlinge aufnehmen wolle, soll er gesagt haben, dann brauche er sich gar nicht in die Weihnachtsmette zu trauen. Schwärzler wäre auch heute noch ein guter Netzwerkpartner, sollte es darum gehen, für Kinder aus Moria eine Herberge zu suchen. Für hoffnungsvolle Utopisten immer noch eine Option.

Wenn Österreich Kinder aus Moria aufnimmt, dann wird Vorarlberg – wie 2015 – seinen Beitrag leisten, mit bewährten Strukturen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken wie unserem Lustenauer Dôsin. "Kinder in die Mitte" und "eine wirtschaftlich erfolgreiche Region mit menschlichem Gesicht", das waren wichtige politische Leitlinien von Landeshauptmann Herbert Sausgruber, der sich seit seinem Rückzug aus der Politik mit großer Begeisterung und Leidenschaft für Pater Georg Sporschills Projekt Elijah engagiert, ein vielfältiges Hilfs- und Bildungsprogramm für Roma-Kinder und deren Familien in Siebenbürgen.

Prüfstein Moria

Kinder und ihre Rechte, ihre Chancen in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, mit dem Fernziel, chancenreichster europäischer Lebensraum für Kinder zu werden, das ist der Kern der Marke Vorarlberg, eine konsequente Weiterführung von "Kinder in die Mitte". Eine Region mit menschlichem Gesicht können die Bilder aus Moria nicht unberührt lassen. Im Europa der Regionen sehe ich Vorarlberg mit den Ländern und Regionen im Einklang, die sich im Sinne der Utopie der Menschenrechte und der europäischen Idee andere Kurzziele setzen als nur Hilfe vor Ort mit Zelten und Decken.

Moria ist für Europa mehr als "eben so eine Notlage", auch wenn es nur eines von unzähligen Lagern ist, wo Kinder und ihre Familien – so sie denn welche haben – unsäglichem, unfassbarem Leid ausgesetzt sind. Moria ist ein Prüfstein für die europäische Solidarität und auch für die Verbindlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ein rechtloser Raum auf einer europäischen Insel, wo Menschen auf ihr nacktes Leben reduziert sind, ist eine Schande für Europa. "Moria" – es steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt das Vertrauen der europäischen Kultur der Menschlichkeit in sich selbst und das utopische Fernziel, das wir Europa nennen. (Kurt Fischer, 20.9.2020)