Sebastian Kurz – der politisch harmlose oder wirkungsvolle Kanzler?

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Präsidentin der Politischen Akademie der ÖVP, Bettina Rausch, geht im Gastkommentar auf Kritik an Sebastian Kurz von Muamer Bećirović ein. Es sei zu früh, historische Vermächtnisse von Kurz zu bewerten.

Wenn Muamer Bećirović in seinem Gastkommentar ("Der politisch harmlose Kanzler der Macht", DER STANDARD, 9. 9. 2020) "kein größeres Projekt" zu erkennen vermag und die "Zusammenlegung der Sozialversicherungen" und den "Kinderbonus" in einem Halbsatz abtut, ist das wohl seiner Jugend geschuldet. Die Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern wurde immerhin jahrzehntelang diskutiert, in unzähligen Regierungsprogrammen angekündigt. Sebastian Kurz hat es umgesetzt.

Was Bećirović vergaß oder verschwieg: Die Entlastung durch den "Familienbonus plus" oder die Senkung des Einstiegssteuersatzes von 25 auf 20 Prozent.

Einbinden und zuhören

Das ist eine Politik, die Österreich fit macht für die Digitalisierung. Eine konsequente Migrationspolitik, die das Chaos der Flüchtlingskrise von 2015 überwunden hat und offenkundige Probleme nicht leugnet, sondern anpackt. Der Kampf gegen Antisemitismus aus allen Richtungen. Und, nicht zu vergessen: ein Nationalratsklub, der so jung und so weiblich ist wie nie zuvor und ein Regierungsteam mit gleich vielen Frauen wie Männern. Davon war Bruno Kreisky weit entfernt.

Die Basis für all diese Maßnahmen hat Kurz gelegt, als er 2015 Präsident der Politischen Akademie wurde. Zu drei großen Themen – Standort, Digitalisierung und Sozialstaat – hat er Expertenkreise ins Leben gerufen, in denen Wissenschaft und Praxis an neuen Ideen für Österreich gearbeitet haben. Einbinden und zuhören also, so entwickelt Kurz politische Leitlinien und Konzepte.

Bećirović unterschätzt vielleicht die intellektuelle Breite, die unser Land ausmacht. Nicht alle Intellektuellen drängen an die Öffentlichkeit, die Vielfalt an Meinungen und Zugängen ist größer, als man glaubt. Diese Vielfalt als Chance zu sehen, ernsthaften Diskurs zu fördern und zu ermöglichen, das ist das Wesen einer bürgerlichen, einer christlich-humanistischen Partei.

Intellektualität richtig verstehen

Wer Intellektualität richtig versteht, folgt nicht einer vermuteten Meinungshomogenität, sondern erfreut sich an Widerspruch und Auseinandersetzung. Und wer wirkungsvolle Politik betreiben will, trifft nach reiflicher Abwägung Entscheidungen und setzt die um. Beides – lebhafter Diskurs und konsequente Umsetzung – hat seine Zeit und seine Berechtigung im politischen Prozess.

Es ist zu früh, historische Vermächtnisse von Kurz zu bewerten oder Vergleiche mit Kreisky anzustellen. Immerhin war dieser dreizehn Jahre lang Bundeskanzler, Kurz ist es noch nicht einmal drei Jahre – und das mit abwahlbedingter Unterbrechung. Wichtiger als die Geschichte ist aber ohnehin, im Hier und Jetzt der größten Gesundheitskrise seit 100 Jahren das Richtige zu tun. (Bettina Rausch, 20.9.2020)