"Die Passagierin" in Graz: die Gräuel von Auschwitz als zu Gemüte gehender Opernstoff.

Foto: Werner Kmetitsch

Auf einem transatlantischen Luxusdampfer, Anfang der 1960er-Jahre. Lisa reist mit ihrem Mann Walter von Europa nach Südamerika, der bundesdeutsche Diplomat tritt für drei Jahre eine Stelle in Brasilien an. Stewarts in weißen, gestärkten Uniformen umsorgen die Reisenden: Wirtschaftswundergesellschaft, ahoi. Da sieht Lisa plötzlich eine Frau, die sie aus ihrer Vergangenheit zu kennen meint. Ihrer Vergangenheit als Aufseherin in Auschwitz.

Martas Anblick zertrümmert Lisas Heile-Welt-Fassade augenblicklich, nach 15 Jahren Ehe erzählt sie ihrem Mann erstmals vom Vernichtungslager. Walter ist entsetzt – vor allem, weil er seine Karriere gefährdet sieht. Aber kann diese Frau wirklich Marta sein? Ist die Polin doch nicht im Todesblock ums Leben gekommen? Lisa erinnert sich an Auschwitz, Bilder des Schreckens werden wieder in ihr wach.

Grausame Wunden

Es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, postulierte Theodor W. Adorno Anfang der 1950er-Jahre. Was hätte der gestrenge Kulturkritikkritiker wohl zu dem Ansinnen gesagt, über Auschwitz eine Oper zu schreiben? Mieczysław Weinberg (1919–1996) hat das getan. Sein Zweiakter Die Passagierin, 1968 fertiggestellt, basiert auf dem gleichnamigen, autobiografischen Buch von Zofia Posmysz. Auch in die Seele des Komponisten polnisch-jüdischer Herkunft hat die NS-Tötungsmaschinerie grausame Wunden gerissen: Seine Eltern und seine Schwester wurden im Holocaust ermordet.

Der rastlos Komponierende, von Dmitri Schostakowitsch zeitlebens gefördert, hat sein Werk selbst nie auf einer Opernbühne erlebt; Die Passagierin wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt. Die beiden Bodensee-Kulturkapitäne a. D., Alfred Wopmann und Günter Rhomberg, waren denn auch bei der Grazer Premiere der Oper mit an Bord. Ereigneten sich die NS-Schrecknisse in David Pountneys Bregenzer Inszenierung unterhalb von zwei riesigen Schiffsschloten, so finden sich die Figuren in Graz in einem schmutzig-weißen Schiffsinneren mit reichlich Stauraum wieder.

In diesem hölzernen Erinnerungsarchiv, in dem sogar Leichen akkurat schubladisiert werden, spielt sich die kluge, stimmungsstarke Inszenierung von Nadja Loschky ab. Die zwei zeitlichen Ebenen der Handlung verschmelzen hier, die Pein der hungernden Lagerinsassen ereignet sich vor den Augen einer versnobten Cocktailgesellschaft. Parallelen zur Gegenwart dürfen wohl gezogen werden.

Farbenreiche Intensität

Loschky fügt in ihrer Inszenierung den beiden Lisas (der KZ-Zeit und der 60er-Jahre) noch die "alte Lisa" und damit eine zusätzliche Erinnerungsebene hinzu. Die dreifach gemoppelte Lisa verstärkt die Schlagseite des Librettos zur Täterebene hin noch zusätzlich. Verwirrend auch, dass die Figur (großartig: Isabella Albrecht) optisch frappierend an Zofia Posmysz erinnert. Wäre es nicht besser gewesen, sie als Erinnernde auf die Bühne zu stellen?

Wie dem auch sei: Die Bilder, Gefühle und auch die Töne, die auf der Bühne des Grazer Opernhauses entstehen, sind von bewegender Intensität. Allen voran fesseln eine gesanglich makellose Dshamilja Kaiser (als mittlere Lisa) und Nadja Stefanoff als Marta. Auch das restliche Solistenensemble ist von einer vokalen Ausgewogenheit und Klasse, dass man einfach nur staunen kann: Tetiana Miyus (Katja), Antonia Cosmina Stancu (Krystina), Anna Brull (Vlasta), Mareike Jankowski (Hannah), Sieglinde Feldhofer (Yvette) und Joanna Motulewicz (Bronka).

Belebend der vibratoselige Schneid von Will Hartmann (als Walter), rund der Bariton von Markus Butter (als Tadeusz). Die an Wendungen und Farben reiche Partitur des Werks erwecken die Grazer Philharmoniker unter Roland Kluttig zu neuem Leben. Begeisterung für eine Premiere, die pandemiebedingt um ein halbes Jahr verschoben werden musste. (Stefan Ender, 21.9.2020)