Ein neuer Lockdown ließe sich verhindern, sagt Experte Czypionka – wenn die Regierung nicht wichtige Botschaften übersehe und sich die Bürger anstrengten: "Fahre ich nach Kroatien und singe in einer schlecht belüfteten Bar ,I am from Austria‘, wird es schwierig."

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Die Bürger müssen mitarbeiten, um einen neuen Lockdown zu verhindern, sagt Czypionka.

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Thomas Czypionka scheut sich nicht, gegen den Strich zu bürsten. Im Mai etwa erregte der Experte vom Institut für Höhere Studien (IHS), das viele Forschungsprojekte zu Covid-19 betreibt, mit Aussagen im STANDARD Aufsehen. Österreich wäre im Lockdown auch mit der Hälfte der Spitalsbetten ausgekommen, analysierte er entgegen jenen Stimmen, die Sparvorschläge des Rechnungshofes als historischen Irrtum qualifiziert hatten. Widerspruch meldet Czypionka nun auch beim aktuellen Krisenmanagement an.

Ein neuer Lockdown ließe sich verhindern, sagt Experte Czypionka – wenn die Regierung nicht wichtige Botschaften übersähe und sich die Bürger anstrengten: "Fahre ich nach Kroatien und singe in einer schlecht belüfteten Bar 'I am from Austria', wird es schwierig."
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STANDARD: Als Gesundheitsexperte sind Sie Auskenner von Beruf. Aber haben Sie beim Start der Corona-Ampel noch durchgeblickt?

Czypionka: Wie viele Menschen war auch ich verwirrt. Solche Verwirrung kann dazu führen, dass die Bevölkerung die Gebote nicht mehr ernst nimmt, nach dem Motto: Wenn die sich selbst nicht auskennen, pfeif ich auch drauf! Die Intention, für Transparenz sorgen zu wollen, ist gut. Der Start war aber doch recht holprig.

STANDARD: Was bemängeln Sie?

Czypionka: Jeder Mensch versteht Grün als Signal, dass alles in Ordnung ist – das ist aber nicht der Fall.Die Ampel hätte aus meiner Sicht mit Gelb starten müssen, um den Bürgern Vorsicht zu signalisieren. Angreifbar ist auch, dass in der Corona-Kommission, die über die Schaltung berät, größtenteils Vertreter der Länder und Ministerien sitzen. Das Gremium braucht mehr Wissenschafter. Klar muss die Politik entscheiden – die ist ja auch verantwortlich. Aber die Faktenanalyse gehört in Expertenhände. Und dann hat die Regierung auch etwas suggeriert, das so nicht geht.

STANDARD: Und zwar?

Czypionka: Dass die einzelnen Bezirke dank Ampel je nach Farbe klare, einheitliche Konsequenzen erwarten können, klingt gut, ist aber nicht umsetzbar. Die Art der Cluster ist von Fall zu Fall verschieden, starre Regeln sind nicht sinnvoll. Bricht etwa in einem Fleischbetrieb das Virus aus, hilft es gar nichts, wenn ich die Schulen schließe.

STANDARD: Die Infektionszahlen steigen stark. Was läuft schief?

Czypionka: Beunruhigend ist, dass die Infektionen nicht erst, wie erwartet, mit der Kälte zu steigen beginnen. Das hängt mit den Urlaubsreisen zusammen, und mit Nachlässigkeit im Alltag. Österreich könnte schon viel besser dastehen, zumal wir mittlerweile ziemlich genau wissen, wie die Übertragung funktioniert und sich Ansteckung verhindern lässt. Strengen wir uns an, ist ein neuer Lockdown zu verhindern. Fahre ich nach Kroatien und singe in einer schlecht gelüfteten Bar I am from Austria, wird es schwierig.

STANDARD: Hapert es nur an der Disziplin der Leute?

Czypionka: Von der Politik wünsche ich mir mehr inhaltliche praxisnahe Kommunikation: Die Wissenschaft weiß längst, dass die Übertragung von mehreren Faktoren abhängt. Zum Beispiel steigt die Zahl infektiöser Aerosole stark mit der Heftigkeit des Ausatmens und damit mit der Lautstärke des Sprechens. Typischerweise stecken sich die Leute an, wenn sie bei einer Privatfeier Happy Birthday singen. Die Politik sollte entsprechende Handlungsempfehlungen geben, der starre Ein-Meter-Abstand ist für Hochrisikosituationen zu wenig. Der Babyelefant braucht inhaltliche Verstärkung.

STANDARD: Flüstern wäre demnach also ein guter Rat?

Czypionka: Oder Schweigen. In Japan gilt bei jeder Veranstaltung die Regel, ausschließlich zu klatschen. In den schlecht belüfteten Öffis zu telefonieren, in einem engen Lift zu reden ist schädlich.

STANDARD: Welches Versäumnis sehen Sie noch?

Czypionka: Nach unzähligen Anekdoten zu schließen, funktioniert das Contact-Tracing nicht gut genug. Dabei ist die Strategie, Kontaktpersonen von Infizierten aufzuspüren und zu isolieren, neben den Masken und Verhaltensregeln die wichtigste Waffe. Die Probleme sind ein Stück weit verständlich, weil Erfahrung fehlt und sich nicht so leicht mit einem Schlag 1000 Menschen finden lassen, die das können. Doch wenn Tests bei Verdachtsfällen tagelang dauern, kann die Eindämmung nicht funktionieren.

STANDARD: Besonders Wien steht da am politischen Pranger. Zu Recht?

Czypionka: Ich höre solche Erfahrungen auch aus anderen Gegenden, etwa von einer Nachwuchssportveranstaltung, wo ein Covid-Fall aufgetreten ist: Die Kinder kamen aus drei verschiedenen Bezirken, deren Behörden dann drei verschiedene Entscheidungen verhängten.

STANDARD: Der Schutz der Spitäler vor Überlastung ist ein zentrales Argument für Anti-Corona-Beschränkungen. Doch bis dato sind die Kapazitäten zu maximal zehn Prozent ausgeschöpft. Sind die neuen Verschärfungen da nicht überzogen?

Czypionka: Nein, denn wir sollten es nicht darauf ankommen lassen. Ein Spitalsaufenthalt wegen Covid sollte in jedem Fall verhindert werden, da stecken ja Schicksale dahinter. In den Krankenhäusern ist die Lage deshalb ruhig, weil sich im Sommer vor allem junge gesunde Menschen angesteckt haben. Wird aber nun der Geburtstag vom Opa gefeiert, kommen die Älteren wieder dazu.

STANDARD: Auch im Lockdown waren die Spitäler weit weg von Überlastung. Ein Zeichen, dass übertrieben wurde? Ihr Kollege Martin Sprenger kritisiert, dass die Politik zu lange zu streng geblieben sei.

Czypionka: Es gilt schon auch, den Kenntnisstand von damals zu bedenken. Man wusste von eilig gebauten Notspitälern in Wuhan, von überlaufenen Intensivstationen in Norditalien und sonst nicht viel. Simulationsexperten warnten vor einem exponentiellen Wachstum der Ansteckungen, wie es für einige Zeit dann auch eingetreten ist. Solch eine Explosion kann auf Dauer keine Spitalsinfrastruktur der Welt abfangen. Vor diesem Hintergrund halte ich den rigiden Lockdown für gerechtfertigt. Im Nachhinein ist man immer klüger.

STANDARD: Was halten Sie Stimmen entgegen, die die Bedrohung durch Covid generell für aufgebauscht halten?

Czypionka: Auch eine schwere Grippe kann sehr gefährlich werden, doch der Unterschied ist: Gegen die Influenza gibt es Impfungen, Covid bin ich ausgeliefert. Was die Bedrohung für einen Teil der Bevölkerung so schwer greifbar macht: Das Risiko unterscheidet sich extrem nach Altersgruppe. Ein durchschnittlicher junger Mensch hat nicht viel zu befürchten, schwere Fälle sind eine kleine Ausnahme. Für ältere Menschen, die meist Vorerkrankungen haben, ist das ganz anders. Das Virus ist wie eine Münze, deren Seiten völlig unterschiedlich aussehen. (Gerald John, 21.9.2020)