Im Juli 2020 wurde bei der Europäischen Kommission eine offizielle Beschwerde über die Verwendung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) eingereicht. Dabei geht es um den Neubau von Behinderteneinrichtungen in Österreich, die vom Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) kofinanziert wurden. Die Beschwerde eingebracht hat der Dachverband der Selbstbestimmt Leben Initiativen Österreich (SLIÖ) in Kooperation mit dem Europäischen Netzwerk für selbstbestimmtes Leben (ENIL).

Den beiden Nichtregierungsorganisationen liegen Informationen über sechs Wohneinrichtungen sowie zwei Einrichtungen der Beschäftigungstherapie vor, die in den vergangenen Jahren in Oberösterreich neu gebaut und mit ELER-Mitteln kofinanziert wurden. Alle acht Einrichtungen sind ausschließlich für Gruppen von Menschen mit Behinderungen gedacht und können wie folgt beschrieben werden:

• Eine Wohneinheit für Personen mit hohem Unterstützungsbedarf in einer großen Einrichtung mit etwa 200 Plätzen für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen

• Eine Einrichtung mit drei Wohngruppen für je sieben Personen mit Behinderungen – insgesamt 21 Wohnplätze – sowie eine Beschäftigungstherapie mit 32 Plätzen für Menschen mit körperlichen und kognitiven Behinderungen im selben Gebäude

• Ein Wohnhaus für 20 Menschen mit Behinderungen

• Ein Wohnhaus für 12 Menschen mit Behinderungen, meist mit Autismus

• Zwei Wohnhäuser für 16 Personen mit körperlichen und geistigen Behinderungen

• Eine Einrichtung für Beschäftigungstherapie mit 24 Plätzen für Menschen mit körperlichen und kognitiven Behinderungen

Beschäftigungstherapie statt Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt

Beschäftigungstherapien für Jugendliche und erwachsene Menschen mit Behinderungen gelten aus folgenden Gründen als aussondernd und diskriminierend:

• Menschen mit Behinderungen sind in Beschäftigungstherapien nicht angestellt, sie erhalten für ihre Arbeit höchstens ein kleines Taschengeld.

• Sie sind weder sozialversichert noch arbeitsrechtlich geschützt, im Gegensatz zu nicht behinderten Menschen, die in geschützten Werkstätten als Betreuerinnen und Betreuer arbeiten.

• Transfers von Beschäftigungstherapie auf den regulären Arbeitsmarkt finden kaum statt.

• Menschen mit Behinderungen in Beschäftigungstherapien sind in Österreich nicht in der allgemeinen Arbeitsmarktstatistik enthalten, diese Personengruppe ist hier unsichtbar.

In ähnlicher Weise hat der österreichische Behindertenanwalt – auf Bundesebene für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zuständig – wiederholt Kritik am Modell der Beschäftigungstherapien in Österreich geäußert. 

In der Beschwerde an die Europäische Kommission argumentieren SLIÖ und ENIL, dass Investitionen in Einrichtungen für Beschäftigungstherapie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf widerspricht, die Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung schützt. Die Richtlinie verlangt, dass angemessene Vorkehrungen getroffen werden, damit Menschen mit Behinderungen "Zugang zu Beschäftigung haben, daran teilnehmen oder sich weiterentwickeln können". Anstatt neue Beschäftigungstherapien zu errichten, sollten daher gemeindebasierte Dienste eingerichtet werden, um die Integration von Menschen mit Behinderungen in den regulären Arbeitsmarkt zu unterstützen.

Aussonderung in speziellen Wohneinrichtungen

Gleiches gilt für Einrichtungen, in denen nur Gruppen von Menschen mit Behinderungen leben. Obwohl in vielen europäischen Ländern immer noch spezielle Wohneinrichtungen für kleinere oder größere Gruppen von Menschen mit Behinderungen üblich sind, birgt dieses Modell der Unterstützung und Betreuung von Menschen mit Behinderungen ein hohes Risiko für Aussonderung und soziale Isolation. Institutionelle Rahmenbedingungen zwingen Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Behinderung, in Gruppen zu leben und zu arbeiten, wo sie sich an vordefinierte Bedingungen und Vorschriften anpassen müssen. Dieselben Aktivitäten werden von einer Gruppe von Personen unter der Aufsicht der Institution durchgeführt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Österreich zeigt deutlich, dass Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben und/oder arbeiten, weniger Kontakte zur Außenwelt haben. Dieses Ergebnis verweist stark auf die isolierende Wirkung institutioneller Rahmenbedingungen.

Die Volksanwaltschaft kritisiert seit Langem den Mangel an individualisierten und gemeindebasierten Unterstützungsdiensten in Österreich. In einem Bericht an das UN-Komitee für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellt die Volksanwaltschaft fest, dass "in der Regel individuelle Bedürfnisse und Wünsche in gemeindebasierten Unterkünften besser berücksichtigt werden können". Sie "beobachtete mehrfach massive Einschränkungen der Selbstbestimmung und der Privatsphäre, den wiederholten Gebrauch abfälliger Sprache, Sanktionssysteme mit dem Ziel der absoluten Unterwerfung, soziale Isolation sowie Bedingungen, die der Vernachlässigung nicht entgegenwirkten". In Institutionen "fehlt den Menschen mit Behinderungen oft der soziale Kontakt zur Außenwelt und sie bewegen sich in geschlossenen sozialen Kreisen". Schließlich geht die Volksanwaltschaft davon aus, dass "in Österreich nicht voll akzeptiert ist, dass Menschen mit Behinderungen individuell eine für sie geeignete Lebensweise wählen können und dafür die notwendige Unterstützung und Betreuung erhalten müssen".

Die Kombination von Wohneinrichtungen und einer Beschäftigungstherapie in einem Gebäude muss als sogenannte "totale Institution" betrachtet werden, deren Bedingungen zu einem noch höheren Risiko von sozialer Isolation, Gewalt und Vulnerabilität für Menschen mit Behinderungen führen. Dies ist bei einem der von ELER in Oberösterreich kofinanzierten Projekte der Fall.

Hohes Risiko für Isolation: Wohngruppen und Beschäftigungstherapie unter einem Dach
Foto: privat

Mangel an personenzentrierten und mobilen Unterstützungsdiensten

In Österreich mangelt es an individuellen, personenzentrierten und mobilen Unterstützungsdiensten für Buben und Mädchen, Frauen und Männer mit Behinderungen. Der Behindertenanwalt betont immer wieder, dass Persönliche Assistenz unverzichtbar ist für die uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft. Ein Mangel an solchen Diensten kann daher zu einem hohen Risiko von Diskriminierung für Menschen mit Behinderungen führen. Einfach gesagt: Ohne individuelle Unterstützung können Menschen mit Behinderungen oft nicht selbst entscheiden, wann sie morgens aufstehen und abends schlafen gehen. In Institutionen herrscht typischerweise eine Starrheit der Routine, die den persönlichen Willen und die Vorlieben der einzelnen Person nicht berücksichtigt.

Die von der EU kofinanzierten Wohneinrichtungen und Beschäftigungstherapien setzen die Aussonderung und soziale Isolation von Menschen mit Behinderungen in Österreich fort. Dies verstößt nicht nur gegen die oben genannte Richtlinie 2000/78 / EG des Rates, sondern auch gegen die EU-Grundrechtecharta, die Europäische Säule sozialer Rechte und nicht zuletzt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die sowohl die Europäische Union als auch Österreich ratifiziert haben.

Auf dem Hintergrund der UN-BRK entsteht immer mehr Rechtsprechung, die ein Verbot der Nutzung von ESI-Fonds für aussondernde Dienstleistungen unterstützt. Im April 2020 veröffentlichte der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Ergebnisse einer Untersuchung in Ungarn und gab eine Reihe von Empfehlungen ab. Er betonte die Notwendigkeit, jegliche Form des Baus oder der Sanierung von Einrichtungen oder Wohnhäusern nur für behinderte Menschen von der EU-Finanzierung auszuschließen.

Fazit

Gemäß Artikel 26 der EU-Grundrechtecharta "erkennt und respektiert die Union das Recht von Menschen mit Behinderungen, von Maßnahmen zu profitieren, die ihre Unabhängigkeit, soziale und berufliche Integration und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gewährleisten sollen". In Artikel 7 der Verordnung über gemeinsame Bestimmungen über ESI-Fonds heißt es: "Die Kommission ergreift während der Vorbereitung und Durchführung eines ESI-Programms geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Diskriminierung, einschließlich der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung."

Trotzdem bauen und renovieren Österreich und andere Mitgliedstaaten weiterhin Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Die von SLIÖ und ENIL eingereichte Beschwerde ist ein Versuch, diese Praxis in Frage zu stellen und sicherzustellen, dass nur Projekte, die die soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen wirklich unterstützen und Diskriminierung verhindern, von der EU-Finanzierung profitieren.

Wenn Sie Informationen zu EU-finanzierten Projekten haben, die nicht der EU-Grundrechtecharta und/oder der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entsprechen, können Sie eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission oder dem Europäischen Bürgerbeauftragten einreichen. Fälle von Betrug oder schwerwiegenden finanziellen Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit EU-Mitteln können  dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung gemeldet werden. (Petra Flieger, 22.9.2020)

Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines von Petra Flieger in Zusammenarebit mit ENIL verfassten englischen Blogeintrags, der am 16. September 2020 auf dem Blog des European Network of Equality Bodies erschienen ist.  

Weitere Beiträge im Blog