In den USA gedenken Tausende der verstorbenen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg.

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Es war ihr nicht vergönnt. Die Grand Dame der US-Justiz und lebenslange Kämpferin für Gerechtigkeit, Ruth Bader Ginsburg, wollte unbedingt noch bis nach der Wahl durchhalten – um nicht ihre Nachbesetzung im Obersten Gerichtshof zum tonangebenden Politikum des Wahlkampffinales werden zu lassen. Um Donald Trump nicht die Gelegenheit zu geben, das Kräfteverhältnis im Supreme Court auf Jahrzehnte hinaus nach rechts außen zu verschieben, auch wenn er gar nicht wiedergewählt wird. Und doch sorgte sie nun mit ihrem Tod für die sprichwörtliche "October surprise", die dem bisherigen Wahlkampf einen neuen, emotional aufgeladenen Dreh gibt.

Für die USA steht nun nicht mehr nur der Präsident zur Abstimmung, es steht vielmehr die Zukunft der Rechtsprechung auf dem Spiel. Das Oberste Gericht entscheidet in zentralen politischen Konflikten als letzte Instanz. Seine Entscheidungen haben weitreichende Konsequenzen für alle. Seine Ausrichtung ist deshalb von kaum zu überschätzender Bedeutung in vielen ideologisch diskutierten Themenbereichen. Gesundheitsversorgung, Frauenrechte die Ehe für alle und viele gesellschaftliche Errungenschaften mehr würden nach Trumps dritter Richterbesetzung zur Disposition stehen. Das wollen Demokraten verhindern, das gefällt Republikanern, das mobilisiert im Wahlkampf.

Neuerlicher Mobilisierungseffekt

Schon 2016 versprach der Wahlkämpfer Trump, mit seinen Richterbesetzungen das historische Grundsatzurteil "Roe vs. Wade", das legale Abtreibung ermöglicht, rückgängig zu machen. Die Aussicht darauf trieb erzkonservative, evangelikale Wähler und Wählerinnen an die Urnen, für die der Showman Trump sonst nicht wählbar gewesen wäre. Für Motivforscher galt diese Wählergruppe als zentral für den überraschende Erfolg Trumps. Ein ähnlicher Mobilisierungseffekt könnte auch 2020 wieder eintreten.

Trotzdem sollten die Republikaner mit Augenmaß und Bedacht vorgehen. Denn Trump muss aktuell vor allem um die Wählenden der Mitte buhlen. Jetzt einen extrem umstrittenen Kandidaten im Senat durchzudrücken könnte sich als Pyrrhussieg erweisen. Die Republikaner müssten sich außerdem den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen, hatten sie doch 2016 argumentiert, eine Richterbesetzung in einem Wahljahr würde dem Volkswillen widersprechen.

Senatoren kämpfen um Wiederwahl

Deshalb ist auch längst nicht ausgemacht, dass alle republikanischen Senatoren und Senatorinnen einer Trump-Nominierung zustimmen. Denn viele von ihnen kämpfen um die eigene Wiederwahl, brauchen ebenfalls die Stimmen Moderater und Unentschlossener.

Die Demokraten wiederum können jetzt auf eine altbewährte Strategie zurückgreifen: die Republikaner als Heuchler brandmarken und Angst vor dem gesellschaftspolitischen Rückfall ins vorige Jahrtausend schüren, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren. Gleichzeitig müssen sie darauf hoffen, dass die Neubesetzung nicht noch vor der Wahl über die Bühne geht.

Ein Blick ins Jahr 2000 zeigt nämlich, dass der Supreme Court auch in Wahlfragen den Lauf der Geschichte ändert. Damals entschieden die Richter faktisch die Wahl zugunsten von George W. Bush, indem sie Nachzählungen in Florida stoppten. In einem Wahljahr, in dem der Präsident schon vorab Wahlbetrug vermutet und wegen der Briefwahl Probleme drohen, ist das angsteinflößend. (Manuela Honsig-Erlenburg, 20.9.2020)