Selbst wenn das "stumme Drittel" Wiens einmal volle politische Mitsprache bekommen sollte, wird die jahrelange politische Exklusion nachwirken.

Foto: Heribert Corn

30 Prozent aller Wienerinnen und Wiener über 15 dürfen bei der Landtags- und Gemeinderatswahl am 11. Oktober ihre Stimme nicht abgeben. Das aktive Wahlrecht bei diesem Wahlgang bleibt Staatsbürgern vorbehalten (EU-Bürger sind für die Bezirksvertretung wahlberechtigt).

Dass fast ein Drittel der erwachsenen Wiener Wohnbevölkerung kein Stimmrecht hat, ist Resultat von zwei Faktoren: Zum einen ist Wien weit stärker von Migration betroffen als der Rest Österreichs. 2019 hatten laut Statistik Austria 46 Prozent der Wiener Wohnbevölkerung Migrationshintergrund, außerhalb der Bundeshauptstadt waren es nur 18 Prozent. Zum anderen ist kaum ein Land in Europa (und keines in Westeuropa) so restriktiv bei den Hürden zum Erlangen der Staatsbürgerschaft. Der Migration Policy Index weist für Österreich in diesem Bereich Platz 28 von 32 europäischen Staaten aus.

Abgesehen von demokratiepolitischen Überlegungen sind Wahlrechtsdebatten aber immer auch von politischem Eigeninteresse geprägt. Wem würde es also nutzen, wenn die heutigen Nichtstaatsbürger in Wien wahlberechtigt wären? (Unabhängig davon, ob das über ein Ausländerwahlrecht oder einen erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft geschähe).

Eine empirisch fundierte Antwort auf diese Frage ist datentechnisch einigermaßen anspruchsvoll. Immerhin sind in Wien wohnhafte Nichtstaatsbürger in österreichweiten Bevölkerungsumfragen noch immer eine recht kleine Gruppe (und eine mit geringerer Teilnahmewahrscheinlichkeit). Um dieses Problem zu lösen, wurden für die folgende Analyse die letzten drei Wellen des European Social Survey (2014, 2016, 2018) miteinander kombiniert. Damit kommt man auf 1.274 Wiener Befragte, von denen 179 nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben – eine Gruppengröße, die zwar keine hochpräzisen Analysen erlaubt, aber doch einige substanzielle Rückschlüsse zulässt.

Die Grafik unten zeigt, wie sich Staatsbürger und Nichtstaatsbürger in Wien bei einer Reihe von Einstellungsfragen und anderweitig politisch relevanten Merkmalen unterscheiden. Bei Einstellungen zu Umverteilung und europäischer Integration gibt es keine signifikanten Unterschiede.

Anders schaut es bei Toleranz gegenüber homosexuellen Menschen aus, wo Nichtstaatsbürger deutlich weniger liberal als Staatsbürger antworten. Umgekehrt sprechen sie sich in Zuwanderungsfragen für liberalere Regelungen aus. Beide Ergebnisse sind wenig überraschend, aber dennoch interessant, weil für gewöhnlich Einstellungen zu diesen beiden Themen miteinander korrelieren. Das tun sie in Wien aber nur bei Staatsbürgern (r = 0,30), nicht aber bei Nichtstaatsbürgern (r = 0,00).

Abgesehen von Einstellungen gibt es auch bei anderen politikrelevanten Merkmalen große Unterschiede. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter Staatsbürgern ist dreimal so hoch wie unter ausländischen Befragten, dafür gehen Nichtstaatsbürger viel regelmäßiger zum Gottesdienst (was einen Teil der gesellschaftspolitisch konservativeren Einstellungen erklärt).

Obwohl diese drei Faktoren (konservative Einstellungen, häufiger Gottesdienstbesuch, kaum Gewerkschaftsmitgliedschaften) für gewöhnlich die Wahl von Parteien rechts der Mitte begünstigen, tendieren Nichtstaatsbürger in Wien etwas stärker zur Identifikation mit linken Parteien als Staatsbürger – ein Hinweis auf die hohe Bedeutung, die Zuwanderungs- und Integrationsfragen für das politische Verhalten haben. Die Daten in der Grafik zeigen aber mehr als deutlich, dass Nichtstaatsbürger für Parteien rechts der Mitte absolut ansprechbar wären, so diese ihre Rhetorik in Zuwanderungsfragen drosselten.

Noch wesentlicher aber ist, dass die Parteiidentifikation (eine wichtige Determinante der Wahlbeteiligung) unter Nichtstaatsbürgern insgesamt deutlich niedriger ist: Wer nicht teilhaben kann, hat auch weniger Anreiz, sich politisch zugehörig zu fühlen. Selbst wenn das "stumme Drittel" Wiens also einmal volle politische Mitsprache bekommen sollte, wird es kein Leichtes sein, den Effekten von jahrelanger politischer Exklusion entgegenzuwirken. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 22.9.2020)