Talent übertrumpft Hautfarbe: Dev Patel als David Copperfield, Rosalind Eleazar als Agnes.

Foto: Constantin

Die Anfang September bekanntgegebenen Oscar-Regeln, die mehr Diversität in Filmen gewährleisten wollen, sehen angesichts dieser Neuverfilmung von David Copperfield schon wieder alt aus. Der Charles-Dickens-Klassiker weist zwar nicht allzu viele Figuren aus unterrepräsentierten Gruppen auf – wie auch? Gleichwohl wird sie dem Ziel, ein breites Spektrum an Hautfarben zu integrieren und damit gegen Farbenblindheit aufzutreten, mit findiger Note mehr als gerecht.

Regisseur Armando Iannucci, selbst Schotte mit italienischen Wurzeln, hat den im England Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelten Roman nämlich mit einem illustren Cast ganz gegen die Konventionen des Kostümfilms besetzt. Der Waisenjunge David wird vom indischstämmigen Dev Patel verkörpert, der damit an seinen karrierebildenden Part in Slumdog Millionaire anschließt. Auch die Nebenrollen sind edel-mannigfaltig: Davids Verbündete Agnes spielt etwa die schwarze Bühnenschauspielerin Rosalind Eleazar mit bravourösem Schwung, dem trunksüchtigen Geschäftsmann Mr. Wickfield verleiht der chinesischstämmige Benedict Wong Statur.

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Anders als man glauben könnte, verfolgte Iannucci mit seiner Casting-Idee kein offen politisches Projekt. "Warum sollte ich nicht aus den hundert Prozent Talenten schöpfen, die mir zur Verfügung stehen?", lautet seine Gegenfrage im Standard-Interview. "Das ist besonders in Großbritannien von Bedeutung, weil wir nicht gerade wenige Kostümdramen fabrizieren. Mir gefällt es nicht, wenn britische Darsteller in die USA gehen müssen, um bestimmte Parts zu bekommen."

Brite oder nicht Brite

Angefangen hat es mit Dev Patel, an den er schon beim Schreiben des Drehbuchs gedacht hatte: "Ich wollte jemanden, der genauso Komödie wie Drama und ,romance‘ kann." Unbewusst sei es ihm aber auch um die Frage von Herkunft und Identität gegangen, versichert er. "Wir kommen beide aus Immigrationsfamilien und sind in England aufgewachsen. Da stellt man sich unweigerlich irgendwann die Frage, ob wir Teil dieses Landes sind oder ob wir uns zu einer anderen Seite hinneigen."

Mit politischer Korrektheit hat Iannucci, der über Großbritannien hinaus mit scharfzüngigen politischen Satiresendungen (I’m Alan Partridge) und der Emmy-prämierten TV-Serie Veep berühmt wurde, ohnehin nichts am Hut. Sein David Copperfield ist fast ein Kind der Gegenwart. Den im Roman noch passiveren, auf die Beobachterposition abonnierten Helden verwandelt er in einen jungen Mann, der seine Träume tatkräftig, aber nicht immer zielsicher verwirklichen will – und dabei auch Züge von Dickens übernimmt. Naturalistisch ist der Film auch abseits der Darstellerwahl nicht, ständig wird die vierte Wand aufgebrochen, den Bettelarmen wird in einer komischen Szene bildlich der Teppich unter der Wohnungstür herausgezogen. Oder eine Hand entreißt Copperfield wie in einem Monty-Python-Sketch einer Idylle.

London als Mega-City

"Als Dickens das Buch geschrieben hat, wurde das Leben in England noch stark über die Klassenzugehörigkeit bestimmt, heute geht es wohl mehr darum, zu welcher Gruppe man gehört", glaubt Iannucci. Den Film sieht er mit einem Fuß in der Vergangenheit stehen und mit dem anderen schon in der Gegenwart. Dies gelingt ihm auch durch ein London-Bild, das die Stadt als Gewimmel imaginiert, mit den Angeboten eines neuen Zeitalters. Sie sollte mehr an eine Megacity wie Manhattan oder Singapur erinnern, es ist ja die Hochzeit der industriellen Revolution, bestätigt Iannucci.

Sein untrügliches Gespür für Absurdität, das er schon in seiner Farce The Death of Stalin zeigen konnte, kommt auch hier nicht zu kurz. David Copperfield wird zum üppig fantasierten Bildungsroman, in dem der Held von Haus zu Haus vagabundiert und überall ein ähnliches Maß an Überfluss vorfindet, egal ob in einer eisern geführten Flaschenfabrik oder in der nur vordergründig elitären Schule. Alles scheint leicht ins Groteske verzogen: Ben Wishaw ist als Davids Gegenspieler Uriah Heep das Beispiel eines kleinmütigen Pharisäers; Tilda Swinton verleiht Tante Betsy, erneut mit Spaß am Verkleiden, klassenuntypische Güte.

Die Dicken’sche Idee des Provisoriums, des Heils durch unverhoffte Begegnungen und Freundschaften, erfüllt Iannucci mit sicherem Instinkt. Zugleich entwirft David Copperfield ein Gegenbild zum Brexit-erstarrten England der Gegenwart, ein Land der Möglichkeiten, in dem sich nicht alle erfüllen: "Viele sehen England mittlerweile als isoliertes, nach innen blickendes Land, aber das stimmt nicht. Wir sind ein sehr offenes und generöses Land mit einem guten Sinn für Humor – auch gegenüber uns selbst." Diese Idee, sagt Iannucci, ganz überzeugter Brite, wollte er bewahren. (Dominik Kamalzadeh, 23.9.2020)