Wussten Sie, dass es in der Europäischen Union neben den 24 Amtssprachen in etwa 60 weitere Regional- oder Minderheitensprachen gibt? Einige große Sprachgemeinschaften sind zum Beispiel Katalanisch, Okzitanisch, Walisisch, Baskisch, Ostfriesich, Sorbisch, Bretonisch, Aromunisch, Sardisch.

Die EU hat sich auch als Ziel gesetzt, dass ihre Bürger neben den Landessprachen auch weitere Sprachen dazulernen sollen. Die Sprachenvielfalt soll auch von den Menschen gelebt und praktiziert werden. Aber wie lernen wir Sprachen?

Kindlicher Spracherwerb

Als Kind kommen wir auf die Welt mit der Prädisposition, Sprache zu erwerben. So geht zum Beispiel Noam Chomsky davon aus, dass wir eine Universalgrammatik in uns tragen und Sprache wie ein Instinkt in uns erwacht. Aber ebenso wichtig ist der sprachliche Input, der an das Kind herangetragen wird. Dass wir befähigt sind, Sprache zu erwerben, ist wohl naturgegeben, welche Sprache(n) wir erwerben, ist sozial konditioniert.

Zu Beginn unseres Lebens eignen wir uns Sprache nach dem Prinzip des Erwerbens und nicht des Lernens an. Spracherwerb erfolgt implizit und begleitet unseren natürlichen Sozialisationsprozess. Das Lernen einer Sprache hingegen ist schulisch geprägt und gekennzeichnet durch eine explizite Grammatikvermittlung. Das Faszinierende dabei ist, dass Kinder gleichzeitig mehrere Sprachen erwerben können – zwei, drei und sogar mehr. Gerade durch die Möglichkeit, sich innerhalb der EU frei zu bewegen, sich niederzulassen, zu arbeiten, ergeben sich vielseitige und vielsprachige Familiensituationen.

Bei den Elternseminaren zum Thema mehrsprachige Erziehung finden sich zum Beispiel bei mir Familien ein, in denen der Vater Spanisch und Baskisch spricht, die Mutter Deutsch, und die Familie lebt in England. Ihr Sohn wächst somit viersprachig auf. Das menschliche Gehirn hat eine unglaubliche Kapazität und ist in der Lage, mehrere Sprachen auf Muttersprachenniveau zu erwerben.

Sprache ist das Leben selbst

Das Kind verbindet den sprachlichen Inhalt mit seinen Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken aus der Welt, und daraus entwickelt sich Schritt für Schritt eine sprachliche Ausstattung, die, wenn der Sprachkontakt nicht abbricht, ein Leben lang hält. Was Kinder also brauchen, um eine oder mehrere Sprachen zu erwerben, ist vor allem vielseitiger Sprachinput und Erfahrungen in dieser oder diesen Sprachen. Kinder reifen sozusagen in die Sprachen hinein. Deshalb sind in meinen Augen beispielsweise Deutschförderklassen in der jetzigen Form, für Kinder, die Schulanfänger sind, nicht sinnvoll.

Für ein Kind braucht die Sprache Funktion und Nutzen, das ist der beste Motor, um sie zu erwerben.
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Die Fremdsprache und die Zweitsprache

Erst ab einem gewissen Alter ist unser Gehirn so weit gereift, dass wir analytisch an den Sprachinput herangehen können, nicht intuitiv, sondern deduktiv. Aber selbst dann ist es vor allem der Wille zur Kommunikation, der uns antreibt, eine Sprache zu lernen. Schon seit vielen Jahren orientiert sich der Fremdsprachenunterricht daran, situativ zu agieren, den Lernenden Inhalte anzubieten, die an ihre Erfahrungswelt anknüpfen. Natürlich ist es wichtig, die Konjugation von unregelmäßigen Verben zu beherrschen, aber diese situationsgerecht mit neuen Freunden zu verwenden, ist das Um und Auf. Ähnlich ist es auch im Zweitsprachenerwerb, dem Erwerb einer Sprache, die in der Umgebung gesprochen wird.

Ein systematisches Lernen sollte stets durch ein situatives Lernen ergänzt werden, eines, das den Lernenden nahe ist, einen Zugang wählt, den ich beispielsweise in der Deutschförderung, vor allem so, wie sie momentan in Österreich organisiert ist, vermisse. Für ein Kind braucht die Sprache Funktion und Nutzen, das ist der beste Motor, um sie zu erwerben. Diese beiden Elemente findet es im Austausch mit anderen Kindern und Erwachsenen. Der MIKA-D-Test, ein Test zur Sprachstandsfeststellung, macht bestenfalls Druck, aber sicher nicht Lust auf Sprache.

Eine offene Haltung

Mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger, eine Sprache auf Muttersprachenniveau zu lernen. Den magischen Zeitpunkt nennt man "kritische Periode". Ab der Pubertät sind wir immer weniger in der Lage, den Level der Native Speaker zu erreichen. Gleichwohl ist es möglich, ein sehr solides Sprachniveau aufzubauen. Das Ziel der EU ist, dass die Bürger sich austauschen können. Dabei beobachte ich, dass in den letzten Jahren der Zeitpunkt, ab dem mit dem Erwerb einer Fremdsprache begonnen wird, immer früher ansetzt, manchmal bereits im Kindergarten. Grundsätzlich ist das begrüßenswert. Aber es muss den Eltern bewusst sein, dass dies keine Alternative zur mehrsprachigen Erziehung ist. Die Erwartungshaltungen sollten dabei realistisch bleiben.

Eine weitere Beobachtung ist, dass der Schwerpunkt überproportional auf dem Erwerb des Englischen liegt. Eine Sprache, die die Kinder in unserem Bildungssystem sehr fundiert lernen. Aber die Alternativen oder zusätzlichen Möglichkeiten sind wenige. Es werden kaum die Nachbarsprachen wie Ungarisch, Tschechisch, Slowenisch et cetera angeboten, die noch dazu österreichische Minderheitensprachen sind. Auch die Sprachen großer in Österreich lebenden Communities wie Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Rumänisch oder Türkisch sucht man im Curriculum vergebens.

Es braucht den echten Willen, Familien und Kinder in ihrer mehrsprachigen Realität wahrzunehmen und zu unterstützen, und nicht, sie zu segregieren. Es braucht eine ehrliche Auseinandersetzung mit unberechtigten, aber vorhanden Ängsten, das "Eigene" zu verlieren, wenn man sich auf das "Neue", "Unbekannte" einlässt. Um eine Sprachenvielfalt in der Kompetenz der EU-Bürger zu erreichen, die sich mit der gelebten Realität in Übereinstimmung bringt, braucht es ein Umdenken, das sich endlich freimacht von dem Vorurteil, das gesellschaftliche Prestige einer Sprache sei der einzige Gradmesser ihres sozialen Wertes. (Zwetelina Ortega, 26.9.2020)