Bild nicht mehr verfügbar.

Nach dem Brand in Moria will sich die EU an der Verwaltung eines neuen Lagers beteiligen.

Foto: REUTERS/YARA NARDI

Die EU-Kommission hat ihre Pläne für die Reform des europäischen Asylsystems vorgestellt: Sie sehen schnellere Asylverfahren an den Außengrenzen, mehr Abschiebungen und die Ernennung eines "Rückführungskoordinators" vor. Bei hohen Flüchtlingszahlen sollen alle Mitgliedsstaaten zu "Solidarität" mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über die Flüchtlingsaufnahme oder über Hilfe bei Abschiebungen.

Der am Mittwoch präsentierte Vorschlag sieht vor, Länder wie Griechenland und Italien vor allem mit einer starken Unterstützung bei der Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht zu entlasten. Gleichzeitig plant die Kommission mehr legale Möglichkeiten zur Einwanderung. Zur Aufnahme von Migranten sollen Länder wie Ungarn und Polen aber nur in absoluten Ausnahmefällen verpflichtet werden. Zugleich will die EU-Kommission, dass alle EU-Staaten in Krisen ihren Beitrag zur gemeinsamen Migrationspolitik leisten.

Verhandlungen über Asylreform seit Jahren blockiert

Die Pläne gehen nun an die Mitgliedsstaaten und das Europaparlament. Die Kommission forderte beide Seiten angesichts der "Dringlichkeit der Situation vor Ort in mehreren Mitgliedsstaaten" auf, sich "bis zum Jahresende" auf die Grundprinzipien der Reform zu einigen. Ob der Plan eine Chance auf Umsetzung hat, ist offen. Ähnliche Versuche waren in den vergangenen Jahren gescheitert. Die EU-Staaten streiten seit Jahren über die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Knackpunkt war stets die verpflichtende Verteilung Schutzsuchender auf alle Staaten.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen appellierte an die Staaten, das Konzept als Basis für einen neuen Anlauf für eine Einigung zu nehmen. Ein Neustart der Immigrationspolitik sei nötig. Die EU müsse beweisen, dass sie mit dem Problem als Einheit human und effektiv umgehen könne. Der Vorschlag der Kommission berücksichtige die Geografie der Mitgliedsstaaten, aber auch die Aufnahmekapazitäten.

Der Vorschlag sieht unter anderem eine Prognose darüber vor, wie viele Flüchtlinge die einzelnen Mitgliedsstaaten aufnehmen müssen. Auch die Wirtschaftsleistung sowie die Bevölkerungszahl sollen bei der Quote berücksichtigt werden. Zudem sieht das Konzept drei Szenarien vor: In normalen Zeiten können die EU-Staaten einander freiwillig helfen. Gerät ein Land unter Druck, kann es jedoch einen Mechanismus für verpflichtende Solidarität auslösen. Die EU-Länder müssten dann entweder Migranten aufnehmen oder anderweitig helfen, etwa durch Abschiebungen. Tritt eine eine Krise wie 2015 ein, greift ein Krisenmechanismus. Dann wird die Auswahl der Hilfsmöglichkeiten geringer: Entweder werden Migranten aufgenommen, oder die Abschiebung einer bestimmten Anzahl abgelehnter Asylwerber wird übernommen. Diese Abschiebung muss innerhalb von acht Monaten erfolgen. Gelingt das nicht, muss das Land sie selbst aufnehmen.

Gescheiterte Ad-hoc-Lösungen

Der italienische Regierungschef Giuseppe Conte begrüßt die Vorschläge für den neuen Migrationspakt als "wichtigen Schritt in Richtung einer wirklich europäischen Migrationspolitik". Dem österreichischen Migrationsforscher Gerald Knaus erscheinen die Inhalte des Pakts hingegen als "wenig realistisch". Auch Österreichs Europaabgeordnete haben unterschiedlich auf den neuen Vorstoß der EU-Kommission für eine Asylreform reagiert: Verfahren zu beschleunigen und neue gemeinsame Hilfsmechanismen zu installieren sei begrüßenswert – aber "mit Abschreckung und Abschiebung allein kann man die Flüchtlingsfrage nicht lösen", twitterte der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas. Die grüne Delegationsleiterin Monika Vana warnte, die Situation an den EU-Außengrenzen dürfe sich durch den neuen Migrationspakt nicht weiter verschlechtern, "andernfalls wird das Elend von Moria zum unerträglichen Dauerzustand". SPÖ und Neos begrüßten die Pläne als Grundlage für eine konstruktive Debatte.

Auch die österreichische Regierung begrüßt den Kommissionsvorschlag und werde diesen nun genau prüfen, hieß es aus dem Innenministerium. Sowohl Bundeskanzler Sebastian Kurz als auch Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) hatten die Flüchtlingsverteilung im Vorfeld als "gescheitert" bezeichnet. Die derzeit gültigen Dublin-Regeln sehen vor, dass meist jener Staat für einen Asylantrag zuständig ist, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst die EU betreten hat. Das belastet vor allem Länder an den Außengrenzen – Griechenland, Italien, Spanien. Sie fordern mehr Unterstützung und eine Verteilung der Migranten auf die anderen Länder. Unter anderem Ungarn, Polen und Österreich lehnen letztere ab. Jeder Versuch einer umfassenden Reform scheiterte in den vergangenen Jahren.

Folgen der Blockade waren immer wieder Notfälle und Ad-hoc-Lösungen. Vor zwei Wochen brannte etwa das völlig überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ab. Mehr als 12.000 Menschen wurden obdachlos. Die EU werde sich nun an der Verwaltung eines neuen Lagers beteiligen und ein "gemeinsames Pilotprojekt mit der griechischen Regierung auf Lesbos" starten, hieß es am Mittwoch. Italien und Malta lassen aus Seenot gerettete Migranten teils wochenlang auf Schiffen ausharren, ehe ihnen die Einfahrt in einen Hafen erlaubt wird.

Viel Kritik von Experten im Vorfeld

Nichtregierungsorganisationen hatten sich im Vorfeld skeptisch über den Kommissionsvorschlag geäußert. Dieser werde aller Voraussicht nach die Fehler wiederholen, die seit Jahren in Griechenland gemacht würden, nämlich Schutzsuchende unter haftähnlichen Bedingungen unterzubringen und dabei eine Unterversorgung von Menschen in Kauf zu nehmen, erklärte die Entwicklungsorganisation Oxfam. Kritisch zeigte sich auch Ärzte ohne Grenzen: "Wir werden erst an diesen angeblichen Neubeginn glauben, wenn die Zahl unserer Patientinnen und Patienten, die unnötig leiden, abnimmt." Die Organisation Pro Asyl warnte vor einer massiven Einschränkung der Rechte von Schutzsuchenden. Sie appellierte an das EU-Parlament, "Rechtsstaat und Menschenrechte zu verteidigen und diesen Pakt abzulehnen".

Auch der Migrationsforscher Rainer Bauböck plädiert im STANDARD für "geregelte Migrationskanäle": "Die gesamteuropäische Solidarität ist so weit unterminiert worden, vor allem von den Visegrád-Staaten, aber auch durch Österreich, das sich zwischen den Visegrád-Staaten und Ländern, die grundsätzlich aufnahmebereit sind, positioniert, dass man heute sagen muss: zurück zum Start und ein System ausarbeiten, das nicht nur gemeinsame Standards im Asylwesen festlegt, sondern auch die Verantwortung für die Geflüchteten aufteilt." (APA, red, 23.9.2020)