Mehr Wähler als bei einer Wien-Wahl je zuvor wählen heuer per Brief.

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Wahlabende sind immer spannend – doch für die Meinungsforscher wird der 11. Oktober besonders aufregend. Schließlich wird es bei der Gemeinderatswahl in Wien so viele Wahlkarten wie noch nie zuvor in der Bundeshauptstadt geben.

Es ist die erste Wahl dieser Dimension, die in Österreich während einer Pandemie abgehalten wird – zu erwarten ist, dass noch mehr Menschen als sonst ihre Stimme nicht im Wahllokal, sondern per Brief abgeben werden.

243.541 Wahlkarten schon jetzt

Das zeigen auch die ersten Zahlen aus dem Büro des für die Wahlorganisation zuständigen Stadtrats Jürgen Czernohorszky (SPÖ). 243.541 Wahlkarten wurden bis Mittwochfrüh für die Wien-Wahl 2020 ausgestellt. Zweieinhalb Wochen vor der Wahl sind das schon mehr, als bei der Gemeinderatswahl 2015 insgesamt ausgestellt wurden. Damals waren es 203.874. Es sind die meisten Wahlkarten, die jemals bei einer Wien-Wahl ausgestellt wurden. Auch die Anzahl bei der Bundespräsidentenstichwahl 2016 von 222.283 in Wien ausgestellten Wahlkarten wurde damit überboten.

Die meisten Briefwahlkarten wurden in der Hauptstadt bei der Nationalratswahl 2019 ausgefertigt: 266.150. Zum Vergleich: Zum Zeitpunkt, als es noch gleich viele Tage bis zum Nationalratswahltag waren, wie es aktuell zur Wien-Wahl sind, waren es 189.044.

Ein Tag Verzögerung

Die Auszählung der Briefwahlstimmen findet erst einen Tag nach der Wahl, am Montag, dem 12. Oktober, statt. Dann werden die Wahlkarten erst auf die verschiedenen Bezirkswahlbehörden aufgeteilt und dort gezählt. Das vorläufige Endergebnis, das am Wahlabend noch ohne diese Stimmen vorliegen wird, kann sich also noch drehen und wenden, weshalb es die Prognosen braucht.

Politikwissenschafterin Eva Zeglovits vom Institut für Empirische Sozialforschung (Ifes) bat deshalb via Twitter, man solle "gnädig" mit den Meinungsforschern sein: Man habe einfach noch zu wenig Erfahrung mit Wahlen während einer Pandemie. Auf Nachfrage sagt Zeglovits: "Es gibt vieles, was am Wahlabend noch nicht fix sein wird – es kann sein, dass wir etwa nicht sicher wissen, wer in den Gemeinderat einziehen wird."

Das betrifft vor allem das Team HC Strache. So wäre es möglich, dass die Partei des ehemaligen FPÖ-Vizekanzlers Heinz-Christian Strache in den Sprengeln bei der Wahl vor Ort mehr als fünf Prozent der gültigen Stimmen erhält. Wer am Wahlabend nur diese Zahl sieht, könnte meinen, dass es für den Einzug in den Gemeinderat reicht. Doch: Mit einem deutlich schlechteren Ergebnis in der Briefwahl würde sich der Einzug trotzdem nicht ausgehen. Das könne für Verwirrung sorgen, sagt Zeglovits.

Vergleich mit Bundespräsidentenwahl

Die Politologin erinnert in diesem Zusammenhang auch an die erste Bundespräsidentenstichwahl: Am Wahlabend verkündete der damalige Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) das vorläufige Endergebnis – der blaue Kandidat Norbert Hofer lag knapp vor Alexander Van der Bellen. Gleichzeitig wurde unter Einbeziehung der Wahlkartenprognose bereits von einem Sieg Van der Bellens gesprochen.

Noch verwirrender: Während einige Medien die Hochrechnung als Grundlage der Berichterstattung heranzogen, zogen andere das vorläufige Ergebnis des Innenministeriums heran.

Es wird gerechnet

Einer, der am Wahlabend rechnen wird, ist Sozialforscher Christoph Hofinger vom Institute for Social Research and Consulting (Sora). Die Wahl 2015 falle noch in die "goldenen Zeiten", als bei 300 ausgezählten Wiener Sprengeln eine "fast perfekte Hochrechnung geliefert" werden konnte. Heuer wird das anders. Hofinger schätzt, dass bis zu 40 Prozent der Wähler mit Karte stimmen. Es sei wahrscheinlich, dass die Wahlbeteiligung insgesamt sinken wird. 2015 lag diese bei 74,8 Prozent. Geht man etwa davon aus, dass heuer 65 Prozent der 1.133.011 Wahlberechtigten mitstimmen, wären das 736.457 Personen. 40 Prozent davon wären 294.582 Wahlkartenwähler. 2015 stimmten nur 18 Prozent per Brief. "Der Anteil wird sich jedenfalls also verdoppeln", sagt Hofinger.

Das bedeute zwei "große Herausforderungen": Von den Wahllokalwählern 2015 auf 2020 zu schließen, sei schon einmal schwierig. Dann müsse noch "ein Wahlkartenmodell" draufgesetzt werden. Das funktioniert – vereinfacht gesagt – so: In Simmering bekam die FPÖ 2015 pro 100 Stimmen im Wahllokal 15 Briefwahlstimmen. Das ist der Basistrend. Sind es nun doppelt so viele Briefwahlkarten, müsse man auch von doppelt so vielen Stimmen ausgehen.

Wer mit Brief wählt

Doch die Briefwähler ändern sich. Anfangs galt: Sie sind urban und mobiler – beruflich unterwegs, Studierende oder haben ein Zweithaus – dieser Faktor korreliert mit Bildung und Einkommen. "Früher war es das klassische Muster, dass Menschen mit mehr Ressourcen eher die Wahlkarte verwenden. Dadurch war das eine Bank für Grün und Schwarz", sagt Hofinger. Und: Es waren eher politisch Interessierte.

Das habe sich in den vergangenen Jahren aber langsam geändert. So etwa verliert die Wiener SPÖ bereits seit 2010 nicht mehr durch die Briefwahlstimmen, das habe auch das "Wildern bei den Grünen" bewirkt. Zugleich sei die ÖVP durch Kanzler Sebastian Kurz in der Wählerstruktur heterogener geworden und gewinnt durch Wahlkarten kaum mehr dazu. Zwei Parteien haben aber ein klares Muster: "Die Grünen haben noch bei jeder Wahl durch die Briefwahlstimmen gewonnen, die FPÖ verloren", sagt Hofinger.

Doch: Heuer ist der Faktor Corona dazugekommen – weshalb möglicherweise viele Ältere per Brief wählen, doch das ist nicht fix. Denn für Ältere sei das Wählen im Lokal "die Weihnachts- und Ostermesse der Demokratie", sagt Hofinger.

Fix sei jedenfalls, dass die Schwankungsbreite der Prognosen heuer über einem Prozent liegen wird.

Der Extremfall: eine epidemiologische Verschlimmerung. Denn ein Lockdown-ähnlicher Zustand könnte die Wahlbeteiligung im Wahllokal weiter drücken. Dann könnten die Briefwähler deutlich über 40 Prozent ausmachen. Eine Prognose will Hofinger zur Corona-Situation am Wahltag nicht abgeben: "Wir wissen nicht, wo wir in drei Wochen stehen."

Die Post bringt Stimmen

Übrigens: Auch für die Post ist die Wien-Wahl ein Kraftakt. Bereits im August wurden rund 150.000 Hauskundmachungen, also Listen, wie viele Wahlberechtigte es in den jeweiligen Häusern gibt, durch Postboten an den Schwarzen Brettern in Mehrparteienhäusern angebracht. Anfang September wurden rund 1,35 Millionen persönlich adressierte Wahlkartenanträge zugestellt, genauso viele Wahlinformationen werden derzeit ausgeliefert.

Weil auch die Post von einem Wahlkartenrekord ausgeht, gibt es mehr als 40 zusätzliche Briefkästen an stark frequentierten Orten, etwa auf öffentlichen Plätzen oder bei U-Bahn-Stationen. Am Wahlwochenende finden dann Sonderentleerungen der rund 1100 Wiener Briefkästen statt. (Oona Kroisleitner, 23.9.2020)