Der vergiftete russische Patient: Alexej Nawalny auf einer Parkbank an einem unbekannten Ort in Deutschland, vermutlich in Berlin.

Instagram account @navalny/AFP/Handout

Genau einen Monat nach seiner Einlieferung in das Krankenhaus Charité in Berlin ist der vergiftete russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am Dienstag aus der stationären Behandlung entlassen worden. Der Gesundheitszustand des 44-Jährigen habe sich "so weit gebessert, dass die akutmedizinische Behandlung beendet werden konnte", teilte das Universitätskrankenhaus am Mittwoch mit.

Die behandelnden Ärzte halten "aufgrund des bisherigen Verlaufs und des aktuellen Zustandes des Patienten eine vollständige Genesung für möglich", so die Klinik weiter. "Eventuelle Langzeitfolgen der schweren Vergiftung können aber erst im weiteren Verlauf beurteilt werden."

Mehr als zwei Wochen im Koma

Nawalny war am 20. August auf einem russischen Inlandsflug kollabiert und zwei Tage später im Koma liegend nach Berlin überstellt worden. Laut Angaben der deutschen Regierung war Nawalny "zweifelsfrei" mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden. Französische und schwedische Speziallabore bestätigten diese Angaben.

Bis zum 7. September wurde der Politiker im künstlichen Koma gehalten. Insgesamt verbrachte er nach Angaben der Charité 24 Tage auf einer Intensivstation. In den letzten Tagen verbesserte sich sein Zustand deutlich, was Nawalny selbst auf Instagram regelmäßig dokumentierte. Nach seiner Entlassung veröffentlichte der Kreml-Kritiker am Mittwoch ein weiteres Foto: Es zeigt ihn mit ernstem Blick auf einer Parkbank sitzend.

Mühsame Rehabilitation

"Der Tag ist gekommen – hurra!", schrieb Nawalny am Mittwoch auf Instagram. Er sieht aber noch einen langen Rehaprozess vor sich bis zur Genesung. Er werde jetzt täglich zur Physiotherapie gehen und womöglich ein Rehabilitationszentrum aufsuchen, heißt es im auf Russisch verfassten Kommentar. Er lerne, den Gleichgewichtssinn wiederzuerlangen, indem er auf einem Bein stehe. Seine linke Hand sei noch teilweise gelähmt.

Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch erklärte auf Twitter, Nawalny werde "vorerst" in Deutschland bleiben, da er sich noch in Behandlung befinde. Bereits am Samstag hatte er den "brillanten Ärzten" der Klinik gedankt. Noch vor kurzem habe er nicht einmal Menschen erkannt und nicht mehr gewusst, wie das Reden funktioniert.

Wie aber ist es zu erklären, dass Nawalny nun doch das Krankenhaus verlassen konnte, obwohl Schlimmeres befürchtet wurde? Und wie sah die Behandlung in Berlin und zuvor in Omsk aus?

Gift der Tollkirsche hilft

Auch wenn man dort angeblich keine Nowitschok-Spuren bei Nawalny fand, taten die behandelnden russischen Ärzte das Richtige: Sie verabreichten ihm Atropin, einen Wirkstoff, der unter anderem in der Tollkirsche vorkommt und der bei Vergiftungen durch sogenannte Acetylcholinesterase-Hemmer, zu denen Nowitschok zählt, klinischer Standard ist. Acetylcholinesterase-Hemmer sind seit den 1930er-Jahren bekannt und kommen auch in anderen biologischen Kampfstoffen und Nervengiften wie Sarin zum Einsatz.

Nervengifte dieser Wirkstoffgruppe lösen akute neurotoxische Effekte aus, indem sie ein Enzym modifizieren, das bei der Reizweiterleitung von Nerven- zu Muskelzellen eine entscheidende Rolle spielt. Bei der vergifteten Person führt das unter anderem zu Krampfanfällen, peripheren Nervenschäden und/oder einer sogenannten cholinergen Krise. Auch Muskelschwächen und Effekte auf die Atmung werden beobachtet. Da diese Giftstoffe die Blut-Hirn-Schranke passieren können, kommt es ohne Gegenmaßnahmen zu Gehirnschäden.

Koma gegen Gehirnschäden

Das bereits erwähnte Atropin blockiert die Effekte eines Acetylcholinesterase-Hemmers wie Nowitschok. Zusätzlich zur Atropin-Gabe werden die vergifteten Personen in ein künstliches Koma versetzt – vor allem, um bleibende Schäden am Gehirn möglichst zu verhindern. Dieses Koma wird so lange beibehalten, bis das Nervengift idealerweise aus dem Körper ausgeschieden ist.

Diese "Reinigung" kann je nach Halbwertzeit einige Zeit – Tage oder sogar Wochen – in Anspruch nehmen. Bei ähnlichen Nervenkampfstoffen wirken sogenannte Oxime als Gegengift, was die Lösung der Bindung des Nervenkampfstoffs vom Enzym bewirken kann. Bei Neurotoxinen aus der Nowitschok-Gruppe helfen diese Oxime allerdings nur begrenzt.

Parallelen zu den Skripals

Ob die Behandlung Erfolg hat, hängt nicht zuletzt davon ab, wie intensiv der Kontakt mit dem Nervengift war und um welches Nervengift es sich handelte. Im Fall von Nawalny oder dem Ex-Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julija, die im März 2018 in der südenglischen Stadt Salisbury damit vergiftet worden waren, fiel die Vergiftung nicht stark genug aus, sodass die drei dank der speziellen intensivmedizinischen Behandlung gerettet werden konnten.

Anders war das im Fall der Britin Dawn Sturgess, deren Partner Charlie Rowley das Fläschchen mit Nowitschok durch einen unglücklichen Zufall Monate später in der nahegelegenen Stadt Amesbury fand und es für Parfum hielt. Strugess sprühte sich das Gift auf die Handgelenke und bekam dabei viel zu viel vom hochwirksamen Toxin ab; Rowley überlebte nur knapp.

Putins neueste Theorie

Laut der Mittwochausgabe von "Le Monde" scheint sich auch der russische Präsident Wladimir Putin mittlerweile damit abgefunden zu haben, dass Alexej Nawalny mit Nowitschok vergiftet worden ist. Am 14. September habe Putin in einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron freilich die Vermutung geäußert, Nawalny könnte sich das Nervengift selbst verabreicht haben.

Der Putin-Kritiker reagierte am Mittwoch mit Sarkasmus auf den Bericht. Nawalnys "Eingeständnis" auf Instagram: "Ich habe Nowitschok in der Küche gekocht. Davon habe ich etwas aus meinem Flachmann im Flugzeug geschluckt." Zynischer Nachsatz: "Putin hat mich durchschaut. Man kann ihn einfach nicht täuschen." (Klaus Taschwer, 23.9.2020)