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Stichprobe: Wer hat schon mal vom Mandela-Effekt gehört? Vermutlich nicht so viele, wie ihn in der einen oder anderen Form schon erlebt haben. Es ist das Phänomen, dass man sich ganz sicher an ein Ereignis zu erinnern glaubt, das tatsächlich aber nie stattgefunden hat. Gerne wird dieser Effekt auch auf kulturelle Produkte angewandt – als klassisches Beispiel gilt der Film "Shazaam" aus den 90er Jahren, den viele zu kennen glauben, den es aber in Wirklichkeit nie gegeben hat. David Quanticks Roman "All My Colors", ein Hybrid aus Horror und Humor, dürfte von diesem Effekt inspiriert sein.

Zur Handlung

Wir befinden uns im Illinois des Jahres 1979, und Hauptfigur Todd Milstead hat wieder mal seine "Freunde" – allesamt glücklose Autoren wie er selbst – um sich versammelt, um sie mit seinem überlegenen Wissen ein bisschen zu demütigen. Gesegnet mit einem eidetischen Gedächtnis, kann Todd jederzeit ein passendes Zitat aus dem Ärmel schütteln – bis er schließlich eine Passage zitiert, die niemand wiedererkennt. Und auch das Buch, aus dem sie stammt, "All My Colors" von einem gewissen Jake Turner, kennt keiner. Dabei war es doch ein Jahrzehnt zuvor ein Bestseller! Todd ist verblüfft, erst recht, als er bei Recherchen in Buchhandlungen und Bibliotheken feststellen muss, dass "All My Colors" offenbar nie existiert hat.

Und so kommt Todd auf eine vermeintlich geniale Idee. Da er selbst nie etwas veröffentlicht hat, schreibt er das Erfolgsbuch einfach noch mal – endlich hat sein perfektes Erinnerungsvermögen einen praktischen Nutzen. Zeile für Zeile tippt er also "All My Colors" aus dem Gedächtnis ab, doch schon jetzt zeigt sich, dass Todd nicht unbedingt der Master seines Masterplans ist: Das Tippen gerät unversehens zu einem manischen In-die-Schreibmaschine-hacken, bis ihm die Finger bluten. Seine Hände scheinen ein Eigenleben zu entwickeln und ihn von allem abzuhalten, was nicht unmittelbar mit dem Schreibakt zu tun hat. Ehe sich's Todd versieht, hängt er also ausgehungert und mit einer Erwachsenenwindel am Arsch vor der Schreibmaschine – aber das Buch stellt er fertig. Und als er es Verlagen anbietet, wird es tatsächlich akzeptiert und zum Erfolg. Die Geschichte ist damit aber natürlich noch lange nicht zu Ende.

Humor und Horror

"All My Colors" (also das Buch von David Quantick, nicht das Buch im Buch) verschmilzt Humor und Grusel. Das Motiv vom Schriftsteller in Nöten ist Stephen King pur, die Umsetzung aber eine ganz andere. Quantick hat schon für diverse TV-Serien gearbeitet, und die Comedy-Erfahrung merkt man ihm auch an. Pointierte Dialoge und höflich getarnte Bosheiten machen den Roman zum Vergnügen. Treffsicher etwa, wie Quantick die wechselseitige Abneigung zwischen Todd und einem weiteren seiner "Freunde", dem Buchhändler Timothy, skizziert. An der Oberfläche herrscht Respekt – darunter brodeln Neid und Galle.

Über weite Strecken liest sich "All My Colors" wie eine schwarzhumorige Abrechnung mit dem Literaturbusiness. Darüber vergisst man mitunter, dass Quantick von Anfang an Horror- und Mystery-Elemente eingestreut hat. Neben der beunruhigend zwanghaften Art, in der Todd das Buch geschrieben hat, wären da zum Beispiel auch die rätselhaften Ermittlungsergebnisse eines Privatdetektivs. Den hatte Todd auf seine Noch-Ehefrau Janis angesetzt, um sie beim Fremdgehen zu ertappen. Und tatsächlich gelingen dem Detektiv Schnappschüsse von Janis zusammen mit einer anderen Frau – doch seltsamerweise bleibt diese auf allen Fotos unsichtbar.

Außerdem suchen Todd immer öfter Visionen heim – die für ihn erschreckendste ist das plötzliche Wiederauftauchen von "All My Colors" in der Originalversion. Man könnte dies für einen Ausdruck seines schlechten Gewissens halten (eine solche Vision, die ihn mitten in einer Lesung befällt, erinnert stark an Poes "Das Verräterische Herz".) Doch es ist definitiv nicht alles nur Einbildung, wie der tragische Fall von Todds Kollegen Billy zeigt: Der brachte die ganze Geschichte überhaupt erst ins Rollen, als er von einer angeblich selbst erlebten Episode erzählte, die Todd aber als Eröffnungskapitel von "All My Colors" wiedererkannte. Seitdem wird Billy von blutigen Albträumen geplagt, und schon bald stirbt er einen schrecklichen Tod. Und es wird nicht der einzige bleiben. Gespannt fragt man sich: Worauf wird das alles hinauslaufen?

Die vielen Todds

Ist "All My Colors" unterhaltsam? Unbedingt. Spannend? Dito. Gelungen? Jein. Die Mischung aus Horror und Humor geht großteils auf, doch die charakterlichen Wandlungen Todds sind für mich etwas schwer nachvollziehbar. Er pendelt zwischen der Arschloch- und der Opferrolle, zwischen Selbstüberschätzung und dem Gefühl, ein naives "Landei" zu sein, zwischen Läuterung (Todd inspected his soul from every angle, and it wasn't good.) und dem Rückfall in alte Verhaltensmuster. Kurz, da ist der eine oder andere Todd zu viel im Spiel – so richtig verstanden habe ich die Figur nicht. Aber Hauptsache, sie unterhält. Denn unterm Strich darf ein Buch alles, nur eines nicht: langweilen. Und das tut "All My Colors" gewiss nicht.