Zeit, sich von Grafikwundern nicht mehr blenden zu lassen!

Foto: Warner Bros

Dieser Tage ist eine Legende unrühmlich abgesackt. Crysis war DAS Grafikwunder seiner Tage, als es 2007 erschien, ein jede Hardware an ihre Grenzen bringendes Wunderwerk, ein unverschämt gut aussehender Shooter, dessen Name bald zum geflügelten Wort wurde. So fett und teuer konnte der neu angeschaffte Spiele-PC nicht sein, dass die Frage "But can it run 'Crysis'?" nicht ihre Berechtigung gehabt hätte, denn in den Grafik-Einstellungen des Spiels ließ sich auch jeder neue Bolide in die Knie zwingen – vor allem auch, aber nicht nur weil die Engine des Spiels mit Multi-Threading ihre Probleme hat.

Nun ist also Crysis Remastered erschienen. Die Begeisterung – auch in der Spielerschaft – ist enden wollend, und das liegt nicht ausschließlich daran, dass die grafischen Verbesserungen wenig ins Auge fallen. Vielleicht könnte man polemisch schlussfolgern, dass mit dieser mäßig gelungenen Neuauflage auch die große Zeit des uneingeschränkten Grafikfetischismus an ihr natürliches Ende gelangt. Schön wär's.

Crysis

Größer, besser, teurer

Auch wenn es frevelhaft erscheint: Der uneingeschränkte Glaube vieler Spieler*innen, dass die Qualität eines Spieles untrennbar mit seiner Grafik verknüpft sei, hat trotz aller technischen Fortschritte nicht von selbst zu "besseren" Spielen geführt; wohl aber zu teureren. Schon bei Einführung der aktuellen Konsolengeneration warnten Industrie-Insider davor, dass HD-Texturen und höhere grafische Qualität die Produktionskosten vor allem großer Spiele explodieren lassen würden – und genau das ist eingetreten. Vor etwa zehn Jahren gab es noch weitaus mehr Spieleentwickler auch in mittelgroßen Studios, die mit ihren Mitteln Spiele in der damaligen grafischen Oberliga abliefern konnten; diese Zeiten sind längst vorbei.

AAA-Spiele, also solche, die für sich in Anspruch nehmen, topaktuell die Leistungsfähigkeit von Hard- und Software sowie Produktionsqualität abzubilden, kosten heute oft hunderte Millionen Dollar in der Entwicklung. Dass es seit Jahren kaum mehr als eine Handvoll solcher Titel gibt, die dann als Blockbuster ihr Geld auch wiedereinspielen müssen, hat ursächlich mit den höheren Anforderungen an Grafik und Produktionsqualität zu tun. Kein Wunder, dass sich da lukrative F2P- oder Games-as-a-Service-Spiele eher rentieren als klassische Modelle. Daneben wuchert der Indie-Bereich, der vor allem grafisch mit diesen Monsterproduktionen nie und nimmer mithalten kann.

Für viele Spieler*innen ist Grafik tatsächlich eines der Hauptkriterien, ob sie sich für ein Spiel interessieren oder nicht. Auch erfolgreichste Indie-Spiele, denen von Publikum wie Presse höchste spielerische Qualität und endloser Spielspaß attestiert werden, werden von diesen Grafik-Puristen von vornherein verachtet. Lieber noch fünfmal Call of Duty durchspielen, als "Pixelgatsch" wie Dead Cells anzufassen – man hat ja schließlich Standards.

PlayStation

Neue Konsolen, neues Glück

Dass in Kürze eine neue Konsolengeneration in den Geschäften steht, bedeutet für viele Grafikfetischistinnen deshalb vor allem die Aussicht auf "bessere Grafik". Die von Sony und Microsoft bisher vorgestellten Titel bedienen diesen Wunsch nach Kräften: Trailer bemühen sich, möglichst die optischen Qualitäten hervorzukehren, anhand von grafisch aufgebohrten Remakes wie jenem von Demon's Souls oder Devil May Cry 5 wird die Grafik-Power von PS5 und Xbox Series X vor den Vorhang geholt.

Auch die weiteren Ankündigungen der jeweiligen Line-ups bemühen sich, auf den ersten Blick Verkaufsargumente zu liefern: Schaut her – so schön, so spektakulär, so gut wird das Spielen jetzt. Dabei ist ausgerechnet die Grafik vielleicht nicht einmal der richtige Grund, sich auf die neue Hardware zu freuen.

Man möge mich nicht kreuzigen: Die grafischen Unterschiede zwischen aktuellen Hochglanzspielen und dem, was jetzt angekündigt wird, sind zu klein, um den vom Marketing herbeigehypten Enthusiasmus zu rechtfertigen. Wie beim Remaster von Crysis stellt sich die Frage, ob die durch Raytracing und andere Zukunftstechnologien erreichbare "bessere" Grafik grundlegend "bessere" Spiele ermöglichen wird. Mehr als Fotorealismus geht irgendwann nicht mehr – und wenn, wie besonders prominent im Fall der genannten Remakes, die Spiele an sich zwar hübscher, aber dafür buchstäblich ein Jahrzehnt alt sind, wird die Rede vom ständigen Fortschritt durch immer bessere Technik auch ein wenig absurd.

PlayStation

Grafik ist nicht alles

Irgendwann, so die Hoffnung, ist vielleicht der Punkt erreicht, an dem Spieler*innen und Industrie anderen Zielen hinterherlaufen als immer "besserer", sprich möglichst fotorealistischer Grafik. Was nützt Fotorealismus, wenn durch die Kosten, die sein Einsatz verlangt, nur mehr F2P- und Service-Games in aktueller Grafikqualität erschienen, die ihre Produktionskosten durch erbarmungsloses Melken des Publikums reinbringen müssen? Was hab ich von Grafik in 8K und mit Raytracing, wenn das dazugehörige Spiel der 35. Aufguss eines Battle-Royale-Klons mit Shooter-Gameplay aus den Nullerjahren ist? Was nützt die "beste" Grafik, wenn sich die dazugehörigen Spiele keine originellen Spielmechaniken zutrauen, um nur ja das Massenpublikum nicht zu verärgern?

Es ist vielsagend, dass das vielleicht größte technische Innovationspotenzial etwa der neuen Konsolen im Vergleich zu den grafischen Kennzahlen so unter dem Radar geblieben ist: Dass moderne SSD-Architektur Spielen ein ganz neues Erzählen ermöglichen könnte, lässt sich in zweiminütigen Trailervideos auch nicht so gut präsentieren wie grafischer Bombast.

Dabei hielte die Zukunft des Mediums so viel Innovationspotenzial bereit, das über das ewige Langzeitziel "bessere Grafik" weit hinausginge: künstliche Intelligenz, die den Namen verdient, prozedurale Spielentwicklung, durch die völlig neue Spielkonzepte in Reichweite rücken, neue Eingabegeräte, Durchbrüche in VR und AR, die Öffnung gegenüber neuen Zielgruppen, die das größte Entertainmentmedium des Planeten bislang großteils außer Acht gelassen hat, und, und, und.

Schön, dass Videospiele in den über fünfzig Jahren ihres Siegeszugs durch die Popkultur von pixeliger Abstraktion zum Raytracing-Fotorealismus gefunden haben. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange aber erreicht, und dann sollten die inneren Werte wieder mehr zählen als Äußerlichkeiten.

Viel schöner wird's im Marathonsprint Richtung "immer bessere Grafik" nämlich nicht. Es wäre sowohl für die Industrie als auch für das Publikum an der Zeit, sich auf andere ambitionierte Ziele und Qualitätsmarker zu konzentrieren. (Rainer Sigl, 27.9.2020)