Ambivalenzen auszuhalten ist bekanntlich die Eigenschaft gereifter Charaktere, und so gesehen wartet Wien mit einem enormen Reichtum an Gelegenheiten zu reifen auf.

Illustration: Carlos Vergara

Ist man nach gut vier Jahrzehnten in Wien bereits ein Wiener oder noch ein "Zuagraster", wie eine gängige lokale Bezeichnung für all jene lautet, die von außen in und über die Stadt gekommen sind? Auf diese Frage gibt es keine eindeutigen Antworten, sondern, wie so oft in Wien, nur ambivalente.

Gewiss, nach einer so langen Zeit des Hierseins kennt man sich in Wien besser aus, oder man glaubt wenigstens, dass dem so sei. Diese Fähigkeit ist, nach ihrer Auswirkung auf das eigene Seelenleben betrachtet, ein durchaus zweischneidiges Schwert.

Dem souveränen Überblick, den man in Jahrzehnten gewonnen hat, dem Wissen darum, wo die Mariahilfer Straße anfängt und die Praterstraße aufhört, der intimen Kenntnis der öffentlichen Verkehrsmittel, die man tagaus, tagein benutzt, stehen Verlusterlebnisse gegenüber.

Das Glück, in der Stadt unvermutet verborgene Sträßchen, Gebäude, Ecken und sonstige Sehenswürdigkeiten zu entdecken, die man zuvor noch nicht gekannt hat, wird einem seltener zuteil. Zuagrast fühlt man sich definitiv nicht mehr.

Zwischenwesen

Freilich wäre es grundverkehrt, aus der Absenz des Zuagrastengefühls den Schluss zu ziehen, man sei nun endgültig angekommen und zum Wiener geworden. In Wahrheit ist man eher in den Status eines Langzeithierlebenden eingerückt und zu einem zweideutigen Zwischenwesen geworden, das sich selbst als ambivalent wahrnimmt und auch so wahrgenommen wird.

Wegen der Ungnade (oder Gnade?) des Schicksals, andernorts geboren und frühkindlich sozialisiert worden zu sein, wird man immer ein defizitärer Wiener bleiben, einer, der das Wienerische nicht mit der Muttermilch eingesogen, sondern erst im zweiten Bildungsweg erlernt hat.

Und auch hier gilt das Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Als ein in Vorarlberg aufgewachsenes Hänschen bin ich bis heute nicht imstande, Wienerisch so zu sprechen, dass ich bei einem Wiener als Wiener durchginge.

Als Entschädigung erfreue ich mich passiv am ambivalenten Nuancenreichtum des Wienerischen, welcher so groß ist, dass er, selbst nach Jahrzehnten des Zuhörens, in Aussprache und Wortwahl mit hocheleganten Effekten ebenso überraschen kann wie mit abgrundtief vulgären.

Wienerisch ist voller Nuancen.
Foto: Regine Hendrich

Zu gross, zu klein

Im Grunde genommen ist es eh ziemlich wurscht, wie viel ruralen Charme und Landpomeranzentum man in Wien noch in sich trägt. Wenn man nicht gerade aus Afghanistan kommt oder sich besonders gschert aufführt, sind die Bio-Wiener in der Regel durchaus gewillt, einen als ihresgleichen, als Nichtzuagrasten zu akzeptieren, wenn auch als einen nicht ganz satisfaktionsfähigen.

Hier unterscheiden sich die städtischen Sitten von den ländlichen, wo es manchmal mehrere Generationen hartnäckiger Ortsansässigkeit braucht, um das Odium des unerwünschten Eindringlings abzuschütteln.

Der ambivalente Charakter von Wien zeigt sich auch darin, dass es aus den bekannten historischen Ursachen eine zu große Hauptstadt für ein zu kleines Land ist. Wien-Basher haben für dieses Missverhältnis die unfreundliche Metapher vom "Wasserkopf" in petto, und Politiker, die in der Provinz punkten wollen, malen Schreckensbilder von Parallelgesellschaften an die Wand, in denen Chinesen und Italiener heimlich finstere Kabalen aushecken.

Es sind dies Versuche, die Ambivalenzen, die das Stadtleben gleichermaßen kennzeichnen wie jenes auf dem Land, aus der Welt zu reden und durch einfache Gegensätze – Land sehr gut, Wien sehr böse – zu ersetzen. "Spalterei" nennt man solche billigen Manöver mit durchschaubarem politischem Hintergrund.

Kehrseiten

Als ich 1979 nach Wien zog, war das ein überaus befreiendes "Stadtluft macht frei"-Erlebnis, auch wenn der Gleichmut der Wiener gegenüber ihren Zuzüglingen, auf dem dieses Erlebnis beruht, ambivalent ist und Elemente der Toleranz ebenso in sich fasst wie solche der bloßen Wurschtigkeit.

Bei aller Wertschätzung für die – gleichfalls ambivalenten – Qualitäten von Vorarlberg habe ich die Verlagerung meines Lebensmittelpunktes keine Sekunde bereut. Im Lauf der Jahre ist allerdings meine Ambivalenzwahrnehmung geschärft worden. Wer, der London, Paris oder New York kennt, wird nicht manchmal vom Gefühl beschlichen, dass die Kehrseite der Gemütlichkeit ein gewisser Mangel an großstädtischer Experimentierfreudigkeit und Drive ist?

Andererseits: Wer, der schon einmal in Johannesburg oder Peking war, würde die immense Lebensqualität, die Wien Jahr für Jahr bescheinigt wird, nicht zu schätzen wissen?

Neue Widersprüche

Ambivalenzen auszuhalten ist bekanntlich die Eigenschaft gereifter Charaktere, und so gesehen wartet Wien mit einem enormen Reichtum an Gelegenheiten zu reifen auf.

Die anstehenden Herausforderungen werden den existierenden Widersprüchen neue hinzufügen: Klimawandel, Flüchtlingskrisen, Corona. Als alter Optimist bin ich der Meinung, dass sie die Ambivalenzhauptstadt Wien mit Bravour meistern kann. (Christoph Winder, Magazin "Leben in Wien", 10.10.2020)