"Voll im Öl hab i der bledn Gurken ihrn Haberer anbraten. So a siassa Zwetschgenoasch … aber die war vielleicht ang’fressn! Najo, blunzenfett und in der 1er-Panier soid ma si kan Köch anfangen, des woa echt ka Schmoarrn, heast. Aber heit is Wurscht, is wieder ois in Butter."

Schon an der Sprache ist erkennbar, wie viel Raum in Wien – der Idee und dem Ort – dem Essen gegeben wird. In Wien ist man, was man isst. Und wo man isst. Woanders nennt man es "Restaurant" oder "Café-Bar", bei uns sind es Soziotope: der Schanigarten, der Heurige, das Kaffeehaus, das Wirtshaus, der Würstelstand, die Pizzeria, der Balkangrill.

"Die Wiener Küche ist die einzige, die nach einer Stadt benannt ist. So wie viele der berühmten Gerichte durch Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen entstanden sind, gilt das auch für Lebensmittel, die hier produziert werden. Mit Weltoffenheit, mit Bezug auf die Geschichte der Stadt, aber in dem Bewusstsein, dass K. u. k. schon länger vorbei ist und eine heute wieder anders bunt gemischte Bevölkerung tolle kulinarische Chancen bietet", fasst es Kochbuchautorin Katharina Seiser zusammen.

Das SchnitzI ist so etwas wie das Logo der Wiener Küche. Jeder Wiener weiß, wo es das ultimativ beste gibt, ob Kalb oder Schwein, ob mit Erdäpfelsalat oder Pedasü-Erdäpfeln, ob mit oder ohne Preiselbeer. Das Wiener Saftgulasch ist das zweite Standbein der klassischen Wiener Fleischgerichte, dann kommt noch der Tafelspitz, dann kommt lange nix. Um halb eins in der Früh vielleicht noch eine Käsekrainer am Würstelstand oder ein Paarl Frankfurter. Die überall sonst auf der Welt "Wiener" heißen, wohlgemerkt.

Frankfurter, die sonst überall "Wiener" heißen.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Fleisch ist im kulinarischen Bewusstsein der Wiener immer noch "die Hauptspeis": Wohl weil gerade die klassischen Fleischgerichte lange ein Privileg der Reichen waren, erst in den letzten Jahrzehnten ist Fleisch leistbar, sogar billig geworden.

Auf wessen Kosten, steht auf einem anderen Kaszettl: Billiges Fleisch bedeutet Tierleid und Ausbeutung – und ist der guten Wiener Küche nicht würdig. Die wenigen verbliebenen Wiener Fleischhauer sind sich der Verantwortung bewusst – allen voran die Fleischerei Leopold Hödl in Liesing, der letzte Wiener Fleischer, der noch selbst schlachtet.

Oder die Ringls in Gumpendorf, der Fischer in der Kettenbrückengasse und der Fellner in der Brigittenau: Dort geht man in Wien, der Stadt mit der Liebschaft zum Tod, auch mit dem Tod von Tieren bewusst um. Und ermöglicht damit das Überleben der einstigen Wiener Armenfleischrezepte, die mittlerweile in die Hochküche eingegangen sind, wie Beuschel, Rahmherz, geröstete Leber, Ochsenzunge – und dem Bruckfleisch, des Beuschels dunklem Bruder.

Innerhalb der Stadtgrenzen

Wien ist, man sagt es gerne, weltweit eine der Großstädte mit dem höchsten Grünlandanteil. Für Milchwirtschaft oder Getreideproduktion reicht das zwar immer noch nicht, aber es ist faszinierend, wie viele landwirtschaftliche Produkte innerhalb der Wiener Stadtgrenzen hergestellt werden.

Käse, zum Beispiel, trotz der fehlenden Rinderherden: Johannes Lingenhels Käserei in Landstraße macht längst international Furore. Tierisches Protein gibt’s auch: Die Weinbergschnecken aus Andreas Gugumucks Schneckenmanufaktur in Favoriten sind ebenfalls weltberühmt. Der Wiener Schneck ist übrigens keine Modeerscheinung – schon im 19. Jahrhundert waren die kleinen Schleimscheißer als günstige (und auch Fastenzeit-kompatible) Eiweißquelle beliebt.

Schon im 19. Jhdt. waren Schnecken Teil der Wiener Küche. Andreas Gugumuck lässt das kulinarische Erbe in seiner Schneckenmanufaktur wieder aufleben.
Foto: Philipp Lipiarski

Dasselbe gilt für den Donaufisch. Gschicht’ln wie die von dem Gesetz, das es angeblich verbat, Dienstboten öfters als dreimal pro Woche (billigen) Fisch zu servieren, haben sich längst als Urban Legend herausgestellt – in Wahrheit gibt es in Wien eine lange Tradition der Fischküche.

"Kaum eine Millionenstadt hat so viele Umbrüche und Neustarts erlebt wie Wien, und doch gilt sie heute als lebenswerteste Stadt der Welt", meint die Wiener Foodbloggerin Alexandra Palla. Das lässt sich auch schmecken: "Es gibt hier moderne Landwirtschaft, kreative Lebensmittelproduzenten und innovative Konzepte."

Je mehr das Wiener Schnitzel zum ultraflachen Touristikkonzept verbraten wird, desto mehr regionale Produzenten sorgen für einen Relaunch der Wiener kulinarischen Identität von innen.

Lukas Norman im Melanzanigewächshaus des Blün.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

So wie z. B. Blün. Die Firma mit dem konzisen Namen hat sich einer futuristisch anmutenden Technololgie verschrieben: der Aquaponik. Ein geschlossenes System, das die Aufzucht von Fischen mit der von Nutzpflanzen (mittels Hydrokultur) verbindet – die Fischausscheidungen düngen die Pflanzen. Produziert wird Wiener Wels, Wiener Barsch und dazu Gemüse und Kräuter.

Gurken aus Simmering

Dass die Beilage die eigentliche Heldin der Wiener Küche ist, ist eine unterschätzte Tatsache. Hier ist der offizielle kulinarische Vize nicht, wie in vielen ländlicheren Gebieten, das energiespendende Stärkegericht (Knödel/Reis/Brot/Erpfln), sondern frisches Gemüse und Obst.

Und es tut sich viel im Bewusstsein um die kulinarische Identität: So manches, was vor wenigen Jahren noch ohne Rücksicht auf Saisonalität importiert wurde, wird mittlerweile in der Stadt selbst angebaut. Die Wiener Gärtner in Simmering liefern seit Jahren die Standardgemüse Gurke, Paradeiser, Paprika. Und Suppengrün natürlich: Sellerie, Lauch, Karotte, Steckrübe, Petersil, Petersilwurzel.

Immer mehr Betriebe sorgen für zusätzliche Artenvielfalt. Der Haschahof z. B., ein Gut, das es seit über einem Jahrhundert gibt und das seit fast 30 Jahren als Biobauernhof geführt wird.

Auf dem Biofeigenhof hat Ursula Kujal ein Ausflugsidyll für Gourmets geschaffen.

Oder der Biofeigenhof am Himmelreich 325: Vor etwa 15 Jahren entschloss sich die Gartentechnikerin Ursula Kujal mit ihrem Partner Harald Thiesz, einen der Pachtgründe der Stadt Wien in Simmering zu übernehmen. Die "Wiener Feige" ist jetzt eine geschützte Bildtextmarke und ein gefragtes Produkt für viele Gastronomen. Als Ausflugsziel eignet sich der Biogeigenhof übrigens auch wunderbar. Urbanes Idyll, ganz ironiefrei.

Idyllisch ist es auch bei Hut & Stiel in Aspern: So etwas wie das Ende des Regenbogens für Schwammerlsucher. Manuel Bornbaum und sein Team produzieren hier Austernpilze nach Zero-Waste-Prinzip. Die Schwammerln wachsen auf Kaffeesud, der in Wiens Restaurationsbetrieben im Überfluss anfällt.

Lust auf Pilzpesto? Gibt es bei Manuel Bornbaum und Florian Hofer vom Hut & Stiel.
Foto: Amina Stella Steiner

Apropos Kaffee: Das Grundnahrungsmittel der Wiener Identität gibt’s natürlich auch aus lokaler Produktion. Der Meinl und der Naber sind wohl die bekanntesten, Aficionados pilgern lieber zur Kaffeerösterei Alt Wien in die Schleifmühlgasse, zur Kaffeefabrik oder zu den Hipstern von Jonas Reindl. Der Nostalgiker mag das als "Bobo-Schas" bezeichnen – aber genau so wird Kaffeekultur am Leben gehalten. Denn so schön das Kaffeehaussitzen, das es nirgendwo sonst in dieser Ausführlichkeit gibt, auch ist: Ohne an gscheidn Kaffee geht das halt net.

Der Wiener ist prinzipiell Experte für eh alles: Fußball, Kindererziehung, Hundehaltung oder kulinarisches Fachwissen. Deshalb gibts in Wien u. a. das beste Brot (Gragger vs. Joseph Brot, das ist Brutalität!), den besten Schinken (vom Thum), den besten Essig (vom Gegenbauer), die beste Marmalad (vom Staud), den besten Senf (vom Ramsa), den lustigsten Honig (der Friedhofshonig von der Bestattung Wien) ... und, natürlich, das beste Sauerkraut.

"Noch vor 50 Jahren gab’s in Wien über 70 Sauerkrautproduzenten!", erzählt Naschmarkt-Grandseigneur Leo Strmiska, besser bekannt als "Gurkerl-Leo". Heute gibts nur noch zwei. Leo selbst ist schon in Pension, sein Stand am Naschmarkt wird aber weitergeführt, das legendäre Champagnerkraut und die Salzgurken (Katerwundermittel!) gibt’s nach wie vor in bewährter Qualität, da ist Leo selbst dahinter.

Buttrige Nusskipferln oder schokoladigste Schokoschnitten gibt es in Gregor Lemmerers Konditorei Gregors.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

SAUER IST DER WIENER selbst, die Süße muss er sich zuführen: Nicht umsonst ist die Mehlspeis ein wesentlicher Teil des Speiseplans. "Heute leben wir als Gesamtbevölkerung die oft zitierte Wiener kulinarische Identität ja viel stärker als zu der Zeit, auf die sich dieser Begriff meist bezieht", meint Gregor Lemmerer, Betreiber von Gregors Konditorei in Margareten. Erst zehn Jahre alt, aber bereits Grätzl-Fixpunkt: der beste Beweis, dass sich Identität nicht nur aus Tradition nährt, sondern ständig frisches, gutes Futter braucht.

Hoch den Spritzwein!

Ob Koffein, Zucker oder Alkohol. Auch wenn man’s nicht immer gerne hört: Die Identität jeder Kultur, jeder Volksgruppe, jedes Landes und jeder Großstadt ist immer auch ein Produkt der jeweiligen Drogen, die hier konsumiert werden, deren Wirkung und deren Konsumationsrituale.

In Wien ist das ohne Zweifel der Alkohol. Die Grundversorgung ist gesichert: Im Wiener Stadgebiet findet sich mit der Ottakringer Brauerei nicht nur eine der letzten großen Brauereien Österreichs, die nicht zum Heineken-Konzern gehören, sondern auch zahlreiche spannende Klein- und Mikrobrauereien. Ein Gulasch ohne ein Seidl Bier, das geht schließlich gar net.

Auch hochwertiges Hochprozentiges kommt direkt aus der Stadt, wie z. B. der Wien-Gin oder der Modelikör Ingwerer. Aber den größten Beitrag zur Wiener Trinktradition leistet natürlich der Wein. Wien ist weltweit die einzige Großstadt mit nennenswerter Weinproduktion innerhalb der Stadtgrenzen. Rund 400 Weinbaubetriebe keltern etwa 20.000 Hektoliter pro Jahr – das sind zwei Millionen Liter, für jeden Wiener einen, wie praktisch!

Und wie die Weinstöcke wird auch hier die Tradition gehegt, gepflegt und auf den letzten Stand gebracht: Immer mehr Wiener Winzer produzieren auch bio, wie etwa der Wieninger in Stammersdorf oder der Burner in Sievering. In diesem Sinne: Man bringe den Spritzwein! (Gini Brenner, Magazin "Leben in Wien", 8.11.2020)