Madame N. kommt oft hierher, um sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich im Bikini in den Liegestuhl zu setzen. "Die Sommer in Paris sind heiß und schwül, doch das ist einer der wenigen Orte, wo ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen kann."

Wenn statt Autos wieder Menschen die Stadt erobern: autofreier Sonntag auf der Avenue des Champs-Élysées.
Foto: Christian Fürthner

Während es auf den Pariser Straßen und in den meisten Parks und Gärten nämlich verboten ist, nackten Oberkörper zu zeigen, wird dies hier geduldet, ohne dass gleich die Flics und Gardiens, die Polizisten und Wachmänner, herbeilaufen und französische Sittsamkeit einmahnen. "Sandstrand und volle Montur am Körper", sagt Madame N. "Das wäre sogar für Pariser Verhältnisse zu viel des Guten."

Der Paris-Plage, 2002 ins Leben gerufen, ist einer der ersten Sandstrände, die in Europas Metropolen in den heißen Sommermonaten temporär aufgeschüttet werden – mit Duschen, Strandkörben und allerlei Sportplätzen.

Doch anders als an der Donau, an der Moldau und an der Spree fallen den Liegestühlen und Beachvolleyballfeldern wichtige Verkehrsachsen wie etwa der Quai de Montebello, der Quai de la Tournelle oder die Seine-Schnellstraße Voie George Pompidou zum Opfer. Und das ist nur ein sommerlicher Vorbote dessen, was sonst noch alles geplant ist.

Sportliche Pläne für eine autofreie Zukunft der Wiener Innenstadt. Eröffnung der "coolen Straße" auf dem Börseplatz im Juni 2020.
Foto: Christian Fürthner

In den kommenden Jahren will Bürgermeisterin Anne Hidalgo, ehemalige Sozialarbeiterin und ausgebildete Sozialrechtlerin, die Autos weiter von den Straßen verbannen und Paris Stück für Stück zur Vorzeigestadt in puncto öffentlichen Verkehrs und Pkw-loser Mobilität machen.

Mit bereits ersten Erfolgen: Laut französischem Wirtschaftsmagazin L’Usine Nouvelle ist die Nutzung des Autos erstmals seit 1940 zurückgegangen – und das, obwohl das Radwegenetz immer noch große Lücken aufweist. Bis 2024 sollen diese sukzessive geschlossen und das Netz verdichtet werden.

Auch in Wien wurden seit Beginn der rot-grünen Stadtregierung im Herbst 2010 schon etliche Fußgängerzonen, Begegnungszonen und temporäre Freizeitoasen geschaffen. Unter Planungsstadträtin Maria Vassilakou (2010–2019) wurde die Mariahilfer Straße zwar nicht gänzlich von Autos befreit, aber deutlich verkehrsberuhigt.

Vorreiter Wien

Das Mammutprojekt ist zum Symbol für ein neues Verkehrsverständnis in der österreichischen Hauptstadt geworden. Es folgten Herrengasse, Lange Gasse, Otto-Bauer-Gasse, Rotenturmstraße und zuletzt – nach langer Diskussion – eine fast autobefreite Neubaugasse. Sogar in neuen Stadtvierteln wie etwa am Nordbahnhof, im Sonnwendviertel oder in der Seestadt Aspern sind Autos in weiten Teilen tabu.

Abkühlung in einer von insgesamt 22 "coolen Straßen" in Wien ...
Foto: Christian Fürthner

Weitere Straßen sollen nachziehen. Einziger Haken: Immer noch haben die Wiener Bezirkskaiser das Pouvoir, sich einer ganzheitlichen Stadt- und Verkehrsplanung in den Weg zu stellen und diese zu verunmöglichen. So sagt etwa Erich Hohenberger (SPÖ), Bezirksvorsteher des dritten Bezirks schon seit vielen Jahren: "Solange es mich gibt, wird es in der Landstraßer Hauptstraße keine Begegnungszone geben. Denn das ist ein Blödsinn."

Auch die Pläne der amtierenden Planungsstadträtin Birgit Hebein (Grüne), die Innenstadt zu verkehrsberuhigen, wurden nicht wirklich mit dem Wiener Bürgermeister und dem zuständigen Bezirksvorsteher akkordiert.

... sowie auf der Paris-Plage an der Seine.
Foto: Christian Fürthner

In dieser Hinsicht liegen zwischen Wien und Paris nicht nur tausend Kilometer Luftlinie – sondern Welten. Das damit verbundene Fehlen eines zusammenhängenden, überlokalen Konzepts zur schrittweisen Autobefreiung Wiens samt Nutzung potenzieller Synergieeffekte wird von einigen Experten stark kritisiert (siehe Interview mit Verkehrsexpertin Angelika Rauch).

Doch abgesehen von ein paar grundlegenden Differenzen, die im Bereich von Mentalität, Kommunikationskultur und politischen Entscheidungsstrukturen liegen, ist es verblüffend, wie ähnlich die Verkehrs- und Stadtplanungsthemen sind, die in Wien und Paris gleichzeitig verfolgt werden: Zu den Fußgängerzonen und temporären Sandstränden gesellen sich sozial, kulturell und klimatisch wirksame Konzepte wie etwa CarSharing, Ausbau der Radwege, Verschattung im öffentlichen Raum, Luftbefeuchtung auf mikroklimatischer Ebene sowie generelle Überlegungen, wie fußläufige Wege attraktiver gemacht werden können. Eine davon ist die sogenannte 15-Minuten-Stadt bzw. Ville du quart d’heure.

Auch in Bezug auf nichtmotorisierte Mobilität werden beide Städte sukzessive umgebaut: Radweg am Quai Saint-Michel ...
Foto: Christian Fürthner

Die Idee ist so einleuchtend, wie es auch hirnrissig ist, dass sie in historisch gewachsenen Städten nicht längst schon eine Selbstverständlichkeit ist. Demnach soll die Stadt segmentiert und dezentralisiert werden, sodass die wichtigsten Alltagswege in einem Radius von 15 Gehminuten erreicht werden können: Supermarkt, Bäckerei, Restaurant, Arzt, Apotheke, Schuster, Putzerei, Blumenhandlung, Copy-Shop, Kindergarten, Schule, Behörden, U-Bahn-Station sowie sportliche Einrichtungen und Naherholungsflächen.

Oder, anders ausgedrückt: Auf einmal merkt die Großstadt, dass sie sich trotz Wachstums dringend dörfliche Qualitäten bewahren muss.

... und Fußgängerzone in der Neubaugasse.
Foto: Christian Fürthner

Einer der Vorreiter ist, wie so oft, Skandinavien. In Oslo wird die Viertelstundenstadt schon seit 2015 umgesetzt. Hauptauslöser zum Umdenken waren in der norwegischen Hauptstadt die kontinuierlich steigende Feinstaubbelastung sowie die ungebrochene Lust auf eine hochwertige Wohn- und Lebenskultur.

Ähnliche Konzepte werden heute auch in Berlin, Zürich, Amsterdam, Rotterdam, Kopenhagen und Barcelona verfolgt. Da wie dort zeigt sich, dass die 15-Minuten-Stadt nicht nur ein sozial faires Modell für ein Zusammenleben in hoher Zahl ist, sondern auch eine wertvolle Investition in eine CO2-reduzierte Zukunft.

Eine Oase für jeden Wiener

Die Wiener Stadtregierung geht sogar so weit, dass sie im Fachkonzept "Grün- und Freiraum" ihr strategisches Ziel formuliert, demnach in Zukunft jeder Wiener, jede Wienerin in nur wenigen Minuten eine attraktive Oase erreichen soll – ob das nun ein kleiner Beserlpark oder das Naherholungsgebiet am Wienerberg ist. "250 Meter bis zum nächsten Grün", lautet das ambitionierte Ziel.

Sprühnebelanlage im Parc de la Villette in Paris. Durch die Verdunstungskälte sinkt die gefühlte Temperatur am Körper. In manchen Städten sind die Anlagen Bestandteil.
Foto: Christian Fürthner

Erst vor wenigen Wochen stellte Birgit Hebein ihre neue Stadtklimaanalyse vor. Die in Zusammenarbeit mit dem meteorologischen Forschungsinstitut Weatherpark erstellte Studie hält ganz genau fest, welche Grün- und Freiräume aus stadtklimatischen Gründen erhalten oder sogar weiter ausgebaut werden müssen.

Überraschender Aspekt am Rande: Der Detaillierungsgrad ist so hoch, dass oft sogar zwischen einzelnen Straßenblöcken eklatante Unterschiede liegen. Von solchen Plänen – oder gar stadtklimatischen Möglichkeiten – kann das eng verbaute, dicht besiedelte Paris nur träumen. Dieser Punkt geht an Wien.

Faire Regeln für alle

Doch egal, welche Schritte man setzt, um den motorisierten Verkehr zu drosseln und die Stadt zukunftsfit zu machen: "Mit Information, Aufklärung und attraktiven Angeboten allein wird man nicht weit kommen", sagt die Wiener Verkehrsexpertin Angelika Rauch, Leiterin des Forschungsinstituts TBW Research. "Zum Zuckerbrot braucht es auch die Peitsche, also Zwangsmaßnahmen und intelligente, langfristig durchgeplante Verbote. Der Mix macht’s."

Wer es nasser will, der konnte heuer ein Bad in der "Gürtelfrische West" nehmen.
Foto: Christian Fürthner

Und was es noch braucht: "Faire Spielregeln für alle. Es kann nicht sein, dass ich der einen Personengruppe Straßen und Parkplätze wegnehme, während sich die anderen einen elektrisierten Tesla leisten können, mit dem sie dann überall fahren und überall parken dürfen."

Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzt ihre Pläne einer autofreien Seine-Metropole konsequent um und denkt nicht im Geringsten daran, Elektromobilität zu bevorzugen. Ihr geht es darum, Platz für den Menschen zu schaffen. Und zwar so schnell wie möglich.

Davon ist Wien mit seiner starken Autofahrerlobby und seinen rund 400.000 Parkplätzen noch weit entfernt. Dieser Punkt geht an Paris. (Wojciech Czaja, Magazin "Leben in Wien", 8.10.2020)