Ein Totengräber am Friedhof Nossa Senhora Aparecida, wo die neuen Covid-19-Toten von Manaus bestattet werden. In der Millionenstadt sind tausende Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen.

AFP/APA/Michael Dantas

Was passiert, wenn in einer Millionenstadt das Coronavirus nahezu ungebremst wüten kann? Die Frage lässt sich seit kurzem nicht nur rein hypothetisch und durch Modellrechnungen beantworten, sondern ganz konkret: Antikörpertests bei 6.000 zwischen März und August gespendeten Blutkonserven aus der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus lassen nämlich darauf schließen, dass von den 1,8 Millionen Einwohnern der Stadt bereits zwischen 44 und 66 Prozent eine Covid-19-Infektion überstanden haben.

Das ist noch mehr als in Österreichs Corona-Hotspot Ischgl, wo nach Tests etwas mehr als 42 Prozent der Einwohner seropositiv waren. Wahrscheinlich habe Manaus die höchste Prävalenz weltweit, vermutet Studienleiterin Ester Sabino im Magazin "Technology Review". Die Forscherin vom Institut für Tropenmedizin der Universität São Paulo hat kürzlich gemeinsam mit brasilianischen und britischen Kollegen auf dem Preprint-Server "medRxiv" eine Studie veröffentlicht, die erstmals versucht, die Corona-Katastrophe in der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Amazonas anhand konkreter Zahlen nachzuzeichnen.

Ungezählte frische Gräber

Bereits im April begannen sich die dramatischen Berichte aus Manaus zu häufen, in denen von überfüllten Krankenhäusern und hunderten frisch ausgehobenen Gräbern die Rede war. Insbesondere im April und Mai stieg die Nachfrage nach Särgen im Vergleich zum Vorjahr auf das Vier- bis Fünffache.

Dabei ist nach wie vor unklar, warum und wie sich das Virus in der Millionenstadt so dramatisch ausbreiten konnte. Denn wie Mobilitätsdaten zeigen, reduzierten die Bewohner ab März ihre sozialen Kontakte. Sabino und ihre Kollegen vermuten, dass der enorme Ausbruch möglicherweise durch die dichte Bebauung und die schlechte Wasserversorgung beschleunigt wurde. Viele Menschen könnten sich zudem im Gedränge auf den Booten angesteckt haben, die als Nahverkehrsmittel dienen.

0,28 Prozent Sterblichkeitsrate

Die Folgen waren jedenfalls dramatisch – und liefern neue Zahlen zur Tödlichkeit des Virus: Laut den allerdings noch nicht fachbegutachteten Berechnungen der Forscher lag die Sterblichkeitsrate bei den Infizierten in Manaus bei etwa 0,28 Prozent (übrigens ganz ähnlich wie bei Ischgl, wo die lokale Fallsterblichkeit 0,26 Prozent betrug). Das ist etwas höher als der Wert, den der US-Epidemiologe John Ioannides ermittelt hat und auf den sich auch der österreichische Infektiologe Franz Allerberger von der Ages beruft. (Die WHO und auch die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention gehen eher von 0,6 bis 0,7 Prozent aus.)

Warum der Wert in Manaus relativ niedrig ist, hängt aber vermutlich auch mit der Altersstruktur der Bevölkerung zusammen. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik sind in der Amazonas-Metropole nur sechs Prozent der Einwohner über 60 Jahre alt. In Wien, das rund 1,9 Millionen Einwohner hat, sind im Vergleich dazu mehr als 16 Prozent 65 oder älter und haben ein entsprechend höheres Sterberisiko.

Allerdings ist in Wien die medizinische Versorgung deutlich besser. Und im Fall von Manaus kommt noch ein anderer Faktor dazu, der mit der jüngeren Bevölkerungsstruktur quasi gegenzurechnen ist: Das Immunsystem der indigenen Bewohner könnte noch schlechter auf Sars-CoV-2 vorbereitet sein als jenes von Bewohnern des globalen Nordens.

Indigene trauern in Manaus um Messias Kokama, 53, der an Covid-19 gestorben ist. Messias Kokama galt als der wichtigste Anführer der Indigenen der Millionenstadt. Aufgrund der Pandemie konnten sich die Angehörigen nicht mit den üblichen rituellen Zeremonien von ihrem verstorbenen Kaziken verabschieden.
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Ein Toter auf 500 Bewohner

Unter der Annahme, dass sich nicht jeder in Manaus mit dem Virus infiziert hat, liege die stadtweite Todesrate durch Covid-19 laut den Forschern zwischen 0,2 und 0,125 Prozent. Anders formuliert: Zwischen einem von 500 und einem von 800 Menschen starben an den Folgen der Infektionskrankheit. Eins zu eins auf Wien umgerechnet wären das zwischen 2.375 und 3.800 Tote.

In der Hauptstadt des größten der 26 brasilianischen Bundesstaaten dürften es nicht mehr allzu viele Corona-Tote mehr werden, denn die Neuinfektions- und Sterbefälle sind seit Mitte August auffällig stark zurückgegangen: Nach Angaben des regionalen Gesundheitsministeriums sank die Zahl der Toten von einem Höchststand von 79 an einem Tag im Mai auf zwei oder drei Tote pro Tag im September. Manaus dürfte also bereits eine Herdenimmunität erreicht haben oder kurz davor stehen, wie auch das Forscherteam um Sabino vermutet.

Das Virus sollte in der Amazonas-Metropole also – in den Worten von Donald Trump – demnächst "quasi von allein verschwinden". Das ist aber natürlich kein Erfolg für das öffentliche Gesundheitswesen, sondern vielmehr seine bitterste Niederlage: In Manaus und anderen Teilen Brasilien wurde es schlicht verabsäumt, den Ausbruch unter Kontrolle zu bringen, was mit unzähligen Toten zu viel bezahlt werden musste. (Klaus Taschwer, 25.9.2020)