Druck von der Straße: Vor dem Verfassungsgerichtshof demonstrierten Menschen für das Recht, sich beim Sterben helfen zu lassen.

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Wolfram Proksch redet nicht lange herum. Rasch nennt er beim Namen, wo für ihn die Wurzel des Unrechts liegt. Es sei die katholische Moralvorstellung, die Suizid hierzulande als verwerfliche Handlung punziere. Seit dem Austrofaschismus bis heute hänge der Staat diese Werthaltung den einzelnen Betroffenen um.

Proksch ist angetreten, um dies zu ändern. Im Namen von vier Bürgern hat der Anwalt beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag eingebracht, die Paragrafen 77 und 78 des Strafgesetzes aufzuheben. Diese untersagen "Tötung auf Verlangen" und "Mitwirkung an Selbstmord" – und verhindern somit, was etwa in der Schweiz seit über 30 Jahren Praxis ist. Im Nachbarland können unter schwerer Krankheit leidende Menschen Hilfe beim Suizid in Anspruch nehmen, indem sie sich von einem Arzt ein tödliches Mittel verschreiben lassen. In Österreich steht jede Beihilfe unter Strafe.

Nun ist der Verfassungsgerichtshof am Zug. Doch ehe die Höchstrichter entscheiden, haben sie zu einer öffentlichen Verhandlung geladen. Am Donnerstag prallten die Meinungen aufeinander.

Vizepräsidentin Verena Madner, Präsident Christoph Grabenwarter: Der Verfassungsgerichtshof muss entscheiden, ob die Türen zur Sterbehilfe geöffnet werden.
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Zentrales Argument der Sterbehilfe-Verfechter: Aufgrund der Rechtslage seien viele unheilbar kranke Menschen zu langem Leiden verdammt – oder eben gezwungen, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu machen, solange sie das noch selbst können. Die Verbote dienten somit keinesfalls dem Schutz des Lebens, sondern seien vielmehr kontraproduktiv, sagt Proksch und verweist auf die Suizidrate, die in Österreich höher liegt als in der Schweiz oder den diesbezüglich ebenfalls liberalen Niederlanden: "Im 21. Jahrhundert muss sich der Staat etwas Besseres überlegen, als verzweifelte Menschen zu verleiten, sich im Rollstuhl die Klippe runterzustürzen oder vor den Zug zu werfen."

Würdig aus dem Leben gehen

Die zur Verteidigung der Rechtslage angetretenen Vertreter der Bundesregierung – Spitzenbeamte aus verschiedenen Ministerien – sehen im Status quo hingegen einen "gerechten Ausgleich" zwischen dem Schutz des Lebens und dem Schutz der Autonomie des Einzelnen. Quasi als Kronzeuge dient dabei der Palliativmediziner Herbert Watzke. "Wir haben ausreichend Möglichkeiten, um ein menschenwürdiges Sterben zu gewährleisten", sagt der Arzt.

So könnten lebensmüde Patienten im Fall einer zusätzlich auftretenden Infektion, wie sie bei schwerkranken Menschen häufig dazukommt, die Behandlung mit Antibiotika ablehnen – völlig selbstbestimmt, wie Watzke sagt. Überdies dürfen Ärzte Schmerzen auch mit Dosierungen bekämpfen, die das Ableben beschleunigen könnten.

Hintertürchen in den Tod

Da gebe es doch auch ganz andere "Fallkonstellationen", hält Proksch entgegen und denkt an Patienten, die viele Jahre in leidvoller Lage dahindämmerten, aber dennoch überlebten. Genau ein solches Schicksal befürchtet Nikola Göttling, Auskunftsperson aufseiten der Antragsteller. Die 50-Jährige – DER STANDARD hat über ihren Fall berichtet – leidet an multipler Sklerose und rechnet damit, in ein paar Jahren als bewegungsunfähiger Pflegefall im Bett zu landen. "Entwürdigend" fände sie ein solches Leben, sagt Göttling: Sie wolle eine verlässliche Möglichkeit, würdevoll aus dem Leben zu scheiden – und nicht irgendwelche "Hintertürchen".

Eine andere Kernfrage wirft der Verfassungsrichter Christoph Herbst auf: Kann im Fall einer Liberalisierung Missbrauch verhindert werden? Eben nicht, argumentieren die Regierungsvertreter und geben zu bedenken, dass es dabei stets um irreversible Entscheidungen gehe – gerade deshalb sei das geltende Verbot angemessen. Denn was, wenn Angehörige Druck auf alte, gebrechliche Menschen ausüben, weil diese eine Last sind oder ein Erbe winkt?

Schweizer Beispiel

"Es gibt keinen Missbrauch", kontert die Gegenseite, diesmal in Person von Silvan Luley: "Ich habe noch nie eine Familie erlebt, die ihren Angehörigen loswerden wollte." Luley spricht als Vertreter des Schweizer Vereins Dignitas, der als Lobby nicht nur die VfGH-Klage finanziert, sondern selbst assistierten Selbstmord anbietet. Beim aufwendigen Verfahren seien die Familien von Anfang an eingebunden, es gebe ausführliche Vorgespräche. Am Ende sei der Suizid nur möglich, wenn zwei unabhängige Ärzte zustimmten und das Rezept ausstellten.

Als ob es in der Schweiz an der Tagesordnung wäre, Angehörige in den Selbstmord zu treiben, winkt Proksch ab und verweist einmal mehr auf die Suizidstatistik: "Welches Menschenbild steckt dahinter, wenn man so etwas unterstellt?"

Genügend Fragen, um den Richtern einiges zum Auflösen zu geben. Die Beratungen würden in den kommenden Wochen fortgesetzt, verkündete Präsident Christoph Grabenwarter am Ende der Verhandlung: Entscheidung vertagt. (Gerald John, 25.9.2020)