Anne Weber, "Annette, ein Heldinnenepos". € 22,70 / 208 Seiten. Verlag Matthes & Seitz, 2020. Die Lesung mit Anne Weber am 29. 9. in der Alten Schmiede wurde abgesagt.

Foto: Matthes & Seitz Berlin

Im November dieses Jahres wird Annette Beaumanoir 97 Jahre alt. In ihrem Haus nahe Dieulefit, in der Provence, weist sie aufdringliche Anrufer ab, indem sie ihr Alter als Schild nutzt. Vielleicht gehört die zierliche Dame tatsächlich der unbeugsamen Rasse der Amazonen an? Vielleicht wird diese Atheistin das ewige Leben erreichen? Auf ihre Weise hat sie es schon geschafft: Ihre Abenteuer haben mehrere Filme und Bücher gefüllt. Annette, ein Heldinnenepos, die schöne Erzählung Anne Webers, ist in Berlin bei Matthes & Seitz sowie in Paris bei Le Seuil erschienen, weil die Autorin, eine in Frankreich lebende Deutsche, ihre Texte immer in beiden Sprachen veröffentlicht.

Die Schriftstellerin, Jahrgang 1964, hat ihr Heldinnen-Subjekt in Dieulefit nach einer Diskussionsveranstaltung zum Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß entdeckt: Der Regisseur Malte Ludin hinterfragt darin die Figur seines Vaters, der für die Deportation slowakischer Juden verantwortlich war. Es war Freundschaft auf den ersten Blick: Vor einem Tintenfischteller sitzend, erlag Anne Weber dem Charme des betagten, zarten Geschöpfs mit den hellen Augen, das schon mit 19 in die Résistance eingetreten war und zwei Jahrzehnte später dieses Engagement in den Hilfsnetzwerken für die algerische Befreiungsfront, die FLN, fortgesetzt hat. So weit, dass Annette Beaumanoir in Frankreich verhaftet wurde, weil sie einen Chef dieser Organisation zu geheimen Treffen chauffiert hatte. Bei sich hatte sie die Schlüssel vieler Wohnungen, in denen sie die von der Polizei gesuchten Militanten unterbrachte.

Nach einem Prozess wurde sie durch ein Militärgericht in Marseille zu zehn Jahren Haft verurteilt. Annette, die ihr drittes Kind gerade zur Welt gebracht hatte, war schon geflüchtet, nach Tunis, wo die vorläufige Regierung Algeriens, die GPRA, ansässig war. Dann nach Algier, wo sie als Ärztin und Lebensgefährtin des Gesundheitsministers im unabhängigen Land arbeitete. Nach dem Staatsstreich Boumédiènes 1965 musste sie untertauchen, bevor sie in Genf ihre Karriere als Neurologin wiederaufnahm.

Der algerische Krieg ist eine Geschichte, mit der Franzosen leben müssen, wie die Deutschen mit dem Nazismus. 2017 hat Macron zugegeben, dass Frankreich dort "Verbrechen gegen die Menschheit" begangen hat, wie sein Vorgänger Chirac die Schuld des französischen Staates bei der Ausrottung der Juden anerkannt hatte. So viele Leute trauern aber um dieses nordafrikanische Land: Millionen von Franzosen algerischer Herkunft, die sich mit der früheren Heimat identifizieren; abertausende Nachfahren der französischen Kolonisatoren, die das verlorene Paradies vermissen; Enkelkinder der "Harkis", die auf der Seite des französischen Militärs gekämpft haben und 1962 erbarmungslos aus dem Land verstoßen wurden, um in Frankreich lange keinen echten Platz zu finden.

Botin der Résistance

"Hätte ich gewusst, was aus Algerien werden sollte, hätte ich der FLN nie geholfen", sagt Annette heute. Freilich bereut sie nichts. Sie wurde zum Mythos, anstatt die Existenz einer hübschen Blondine zu führen, die mit einem Granden der Medizin verheiratet ist – dem Uniprofessor "Jo" Roger, ehemaliger Offizier des kommunistischen Widerstands. Sie hätte die bequeme Existenz einer linken Bourgeoisen gehabt, die sich für die Neurologie begeistert, während sie zwei Söhne und eine Tochter großzieht.

Zwei von ihnen sind tot, ihre Fotos finden sich überall in ihrem Haus. Lieber Unruhe! Sie ist als Botin der Résistance durch Frankreich geradelt, hat jüdische Kinder vor der Deportation gerettet, ist Verhaftungen durch die Gestapo knapp entkommen. Im kommunistischen Widerstand musste man sich einer eisernen Disziplin unterziehen: Die methodische Vorsicht, die Selbstüberwindung, die Annette damals gelernt hat, kamen dann zum vollen Einsatz gegen einen in einem blutigen Krieg verwickelten französischen Staat. Die jüdischen Kinder, die sie in der Bretagne verstecken konnte, kommen als Erwachsene nach Marseille, um sie vor Gericht zu entlasten.

Kann man sagen, dieses Leben ist "buchreif", wie man "filmreif" sagt? Anne Weber hat einen stilistischen Raum eröffnet, in dem die Literatur sich entfaltet. In freien Versen singt sie die Abenteuer ihrer Heldin wie einst Homer die seiner männlichen Helden. Zwei Figuren des griechischen Dichters kommen immer wieder vor: Wie Odysseus war Annette ein "Niemand", ein kleines Rad in der großen Maschinerie der Résistance. Sie ist aber auch Sisyphus, der Mensch, der das Leben, die Sonne, das Meer so sehr liebte, dass er in die Unterwelt gezwungen wird, wo er den Tod selbst in Ketten legt und deswegen von Göttern, die er verachtet, zum ewigen Rollen eines Felsens verdammt wird. Wir sollen uns Sisyphus am besten glücklich vorstellen, sagt uns der aus Algerien stammende Albert Camus (und Anne Weber schreibt: "Camus war friedlich, Annette war es nicht"). Er wird zwar nie das Ende seiner Aufgabe sehen. Aber, schreibt sie: "Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen reicht aus, ein Menschenherz zu füllen." (Joëlle Stolz, 27.9.2020)