Es ist natürlich viel mehr als eine Großmutter-Biografie, die Alexander Osang, 1962 in Ostberlin geboren, auf über 600 Seiten vor uns ausbreitet: Bis hin zum DDR- und Nach-Wende-Roman ist sein Jahrhundertporträt eine berührende Deutschland-Saga, vor allem aber eine deutsch-russische Geschichte mit ungeahnten Wellen.

Sie nimmt 1905 in der russischen Provinzstadt Gorbatow, 400 Kilometer östlich von Moskau, ihren Ausgang: "Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen." Mit diesem ungeheuerlichen Satz fängt der Roman und erst so richtig das gewaltvolle 20. Jahrhundert an. Der so grausam Getötete war Osangs Urgroßvater, ein einfacher Handwerker, Weber, später sagte man, ein Revolutionär, Kampfgefährte Lenins, und in Gorbatow setzte man ihm ein Denkmal. Da hat die Familiengeschichte längst ihre mythischen Züge entfaltet, ein Narrativ, das über die Generationen tradiert wird.

Lange Reise durchs Jahrhundert

Aber damals, als Viktor Krasnow von Häschern des Zaren ermordet wird, bricht über die Familie das pure Unglück herein. In einer eiskalten Nacht muss die Witwe aus dem Heimatort flüchten, mitsamt den beiden minderjährigen Kindern, Pawel und Jelena. Jelena ist die Großmutter des Autors, der hier als Erzähler namens Konstantin Stein durch die Zeiten und Untiefen der Familiengeschichte führt. Denn mit der Flucht beginnt eine lange Reise durchs Jahrhundert, quer durch Russland, hinein ins Nazideutschland und die spätere DDR.

Es sind Umwege, Abwege, Schicksalswege. Ein langer, theatralischer Faden spinnt sich durchs Buch, den weniger der Ich-Erzähler konstruiert, als er ihm vielmehr nachjagt. Konstantin ist Autor, Filmemacher und auf der Suche nach "seinem Thema", das tief in der Vergangenheit, in jenem Abgrund liegt, der sich Geschichte nennt. 112 Jahre nach der Ermordung seines Urgroßvaters reist er nach Russland, in die Provinzstadt, in der alles anfing. Aber das "Thema" ist viel zu komplex, um es fassen zu können.

Alexander Osang, geb. 1962 in Ost-Berlin ist deutscher Spiegel-Journalist und Schriftsteller: "Orientierungslosigkeit als eigentliches Thema".
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Da ist zum Beispiel auch die Sache mit dem deutschen Großvater, Robert Silber. Der ist als junger Mann nach Russland gegangen, um die Sowjetunion "aufzubauen". Jelena verliebt sich in ihn, und zwar in jener Nacht, als Lenin stirbt, wird sie später erzählen. Bis dorthin war ihr Leben "eine einzige Flucht", und die ist noch lange nicht zu Ende. 1936 geht Robert mit ihr nach Deutschland zurück, nach Sorau in Schlesien, wo seine Familie eine Textilfabrik und eine Villa besitzt. Aus Jelena Krasnowa wird Elena Silber. Später wird sie einen weiteren Buchstaben verlieren und nur noch Lena sein, aber eine Deutsche wird sie deswegen nie.

Ohne Anspruch auf Glück

1945 schleppt sie ihre russische Geschichte in den deutschen Untergang hinein, noch einmal wird sie vertrieben, und wieder fehlt in der Familie der Mann, denn Robert verschwindet nach Kriegsende spurlos von der Bildfläche, später weiß man, er war NSDAP-Mitglied, und Elena hat sich längst von ihm entfremdet. Die gutbürgerlichen Verhältnisse, in denen sie ohnehin nur eine Fremde war, wird sie nie wieder erleben, stattdessen wird sie mit ihrer Herkunft konfrontiert: ein russischer Offizier, eine Jugendliebe aus Gorbatow, aber der Lauf der Zeit ist ein anderer, ohne Anspruch auf Glück. Auch der Entfremdungsprozess, der sich zwischen ihr und ihren Töchtern auftut, belastet die Familiengeschichte, die widersprüchlich genug bleibt. Der Erzähler nennt es "Familienkanon", in den der Revolutionär von Gorbatow ebenso hineingehört wie Elenas Mann Robert, von dem man nie erfahren wird, was wirklich mit ihm geschehen ist.

Alexander Osang, "Die Leben der Elena Silber". € 24,70 / 620 Seiten, erschienen im S.-Fischer-Verlag, 2019
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Den Schicksalsfaden greifen

Am Ende versucht der Enkel den, sagen wir ruhig, Schicksalsfaden zu greifen. Aber Konstantin, der wissen möchte, wo er herkommt, hat das neue Leben nach der Wende verpasst. Mit den Zeiten und ihren Umbrüchen wissen der deutsche und der russische Teil der Familie eben nicht so recht umzugehen. Von seiner Baba schreibt der Enkel: "Sie hätte eine Frau sein können, die raucht", mit "einer Vorliebe für filterlose Zigaretten". Aber: "Ihr wurde immer schwindlig, wenn sie rauchte, was, wie sie fand, gut zu ihrer Position in der Welt passte." Elena, eine Hätte-Frau, die in der Familie nur noch das russische Großmütterchen genannt wird, personifiziert die Geschichte, in der der Orientierungsverlust das eigentliche Thema ist. Und dass es eine Deutungshoheit nicht gibt, um die Konstantin ringt, denn er kann und will sich der Geschichte nicht entziehen und sucht überall nach Zugängen. Aber weder die Mutter noch die Tanten können ihm sein "Thema" zu einer gültigen Erzählung formen, zu unterschiedlich sind die Ansprüche und Ausflüchte.

Das Schicksal, vielmehr die Zeitgeschichte, kratzt gehörig an der Identität, das gilt nicht nur für einzelne Personen, das gilt für zwei Länder und ein ganzes Jahrhundert. Das ist es, was der Roman so grandios leistet: die kleine mit der großen Geschichte zu verschränken. Die Leben der Elena Silber sind eine Jahrhundertgeschichte, die einen durch die Zeiten trägt (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 27.9.2020)