Wuchernde Zweige, Blätter und Blüten formen eine dichte Laube auf dem Balkon. In diesem grünen Schatten sitze ich mit zwei Nachbarinnen. Eine stammt zufällig aus derselben Stadt wie ich. Es dauert nicht lang, und wir zählen Name für Name die Honoratioren auf, welche dort während der Nazi-Zeit profitierten und die danach als achtbare Bürger angesehen wurden. Wir buchstabieren WANKA, WILLINGER, ZWEIMÜLLER und mehr. Als Schulkinder wussten wir nichts über deren Vergangenheit. Nun können wir nicht aufhören, mehr erfahren zu wollen, und es entspinnt sich ein hitziges Gespräch. Doch was genau empört uns?

Als wir aufwuchsen, erlebten wir vor allem gesammeltes Schweigen, das es erschwerte, Beziehungen zwischen den Generationen aufzubauen. Weil wir einander ungreifbar waren. Ständig mussten wir Leerstellen umschiffen, bis wir vergaßen, dass sie überhaupt existierten. Indem wir mitmachten, weil die Eltern und Großeltern das von uns verlangten, wurden wir Komplizinnen. Daraus entstand die "große Auslassung".

Kindsein auf dem Land im Österreich der 60er-Jahre: "Ständig mussten wir Leerstellen umschiffen, bis wir vergaßen, dass sie überhaupt existierten."
Foto: Sabine Scholl / privat

Weil es so lange dauerte ...

Hätte ich zum Beispiel gewusst, dass ein berühmter Linzer Dichter, der auch eine wichtige Literaturzeitschrift herausgab, sich als Jugendlicher von den Möglichkeiten der Propaganda hatte verführen lassen, hätte ich als junge Autorin seine Reaktionen besser verstanden. Irgendwann im Laufe unserer Begegnungen gebrauchte ich scherzhaft das Wort "Burschen", um damit die Forschheit männlicher Avantgardisten nach dem Krieg zu betonen. Entrüstet meinte er, dass ich ihnen Nazi-Gedanken unterstellte, und brach jeden Kontakt ab. Welches Tabu ich damit verletzt hatte, konnte ich mir damals nicht erklären.

Später studierte ich zwar Geschichte, suchte in antifaschistischen Arbeitskreisen, Marxismus-Seminaren, feministischen Zirkeln nach Orientierung. Über der Vergangenheit von Gebäuden und Landschaften lag jedoch weiterhin ein Schleier.

Heute, am Balkon in Wien, fühlen wir uns immer noch betrogen, und deshalb regen wir uns auf. Weil es so lange dauerte. Weil auf Hinweistafeln, welche von Gebäuden und Menschen erzählen, jene dunklen Zeiten oft ausgespart bleiben. Als wären das persönliche Beleidigungen, wenn ein historisches Dokument bezeugt, dass der Apotheker, der Bäcker und andere, die ohnehin längst gestorben sind, tätige Nazis waren. Diese Angaben unterstellen, es wäre ohnehin damals nichts passiert. Und die sogenannten "Entgleisungen" rechter Parteien sind gar keine, denn diese Äußerungen bilden ja die Geleise, auf denen ihre Ideologien seit jeher in eine geschönte Vergangenheit unterwegs waren.

Heute, am Balkon in Wien, fühlen wir uns immer noch betrogen, und deshalb regen wir uns auf.

Für meine Generation hingegen wird der Grusel, der während unseres Heranwachsens über der Landschaft und den Dörfern lag, durch das Wissen, das in Archiven und im Internet inzwischen aufzufinden ist, begreifbarer. Türen in die Vergangenheit werden geöffnet und schreiben die Gegenwart um. Mein Nachforschen begann, als ich eines heißen Augusttages nach Poollektüre suchte und mir ein zerlesenes Exemplar von Edmund de Waals Der Hase mit den Bernsteinaugen in die Hände fiel. Inmitten von Grillengezirpe und durstenden Tieren erkannte ich eines der darin abgebildeten Gebäude wieder, dessen Umrisse mir vertraut waren: ein Palais, welches sich gegenüber der Wiener Universität befindet, wo ich studiert habe. Täglich waren wir daran vorbeigelaufen, ohne je wissen zu wollen, dass es ein gestohlenes Haus war, und ohne Näheres über die früheren Besitzer, die jüdische Familie Ephrussi, zu erfahren. Und so ging es dahin.

Keine Lücken ertragen können

Auf der Suche nach einem typisch österreichischen Dorf als Schauplatz für eine zu schreibende Geschichte kam mir ein Ort im Mühlviertel in den Sinn, wo ich mit den Kindern Ferientage verbracht hatte. Bald stieß ich auf eine Notiz, dass die dortige Schlossherrin gegen Kriegsende eine Widerstandsgruppe gegründet hatte. Ich begann zu recherchieren, landete eines verregneten Sommertages vor dem Schlosstor und durfte das Archiv nutzen.

Später begab ich mich, zum Beispiel, durch labyrinthische Gänge ins Linzer Landesarchiv, um die Stimme einer älteren Frau aus dem Ausseerland, welche von ihren Aktionen im Widerstand gegen die Nazis berichtete, zu hören. Sie sprach leise und zurückgenommen, es war keine Heldinnenerzählung. Der Interviewer fragte viel nach, steuerte das Gespräch, bezog sich auf bereits Verfasstes und Festgeschriebenes. Je dichter ich an das Original reichte, desto fragiler wurde das Bild, das ich mir davon gemacht hatte. Meist erfuhr ich gar nicht, was ich zu hören geglaubt hatte, war mit meiner Imagination bereits voraus. Das war schon bei der widerständigen Mühlviertler Schlossherrin so. Und weil ich keine Lücken ertragen kann, sondern alle mit Erzählungen füllen will, bin ich nicht Historikerin geworden.

Dann aber die Selbstzensur: Darf ich das überhaupt? Darüber schreiben? Haben das nicht längst andere übernommen, die dafür bekannt wurden, sich mit brisanten Vorgängen während des Nationalsozialismus zu beschäftigen? Doch warum will ich mir diese Arbeit versagen? Weil ich denke, dass das Thema anderen gehört? Weil es bestimmten politischen Gruppen und Schreibweisen gehört? Ich meine, in ein Territorium zu dringen, das mir nicht zusteht.

Mit Waldheim hat das ja begonnen, dieses Erinnern, bemerkt die Nachbarin am Balkon.

Stimmt.

Mir fällt ein: In der Küche des Philosophieprofessors wird diskutiert. Seit Waldheim spricht man darüber, auf welcher Seite die Vorfahren im Zweiten Weltkrieg standen. Als ich an der Reihe bin, bringe ich drucksend vor, dass meine Eltern Kinder waren, sie also weder Täter noch Opfer gewesen sein können. Hoffe, dass ich davonkomme.

Und was war mit deinen Großeltern? Ich werde rot. Stottere noch mehr. Will nicht gestehen, dass sie Bauern waren und nicht einmal das. Eher Knechte und Mägde. Schäme mich, weil ich vor meinen Kolleginnen, meist Nachkommen von Ärzten, Juristen, Geschäftsleuten, bisher vermieden habe, zuzugeben, dass ich nicht in ihre Kreise gehöre. Ein Gefühl, das ich seit der Kindheit kenne.

Meine Scham rührt genauso von dieser unpassenden Herkunft wie vom Unwissen über das Verhalten meiner Großeltern zur Nazizeit her. Dann lassen die Fragenden ab von mir. Und ich mache mich ohnehin bald aus dem Staub. Verlasse Österreich. Nicht mehr mein Problem. Gehe immer dorthin, wo ich neuerlich die Unbekannte bin, geschichtslos. Ich breite mich geografisch aus, grabe nicht mehr in die Tiefe der Vergangenheit. Doch in den USA werde ich fast überall als Nachfolgerin jener Tätergeneration angesehen. Dass ich mich dazu erkläre, wird erwartet. Ich werde das ungewisse Erbe nicht los.

Mein Treibstoff ist die Angst

Und seit ich mit dem Nachforschen begonnen habe, erfahre ich immer mehr. Das Internet hat vieles verändert. Ich tippe irgendwo an, sofort gibt die feste Oberfläche nach, und ich gerate in die Untergründe der Geschichte. Als ich mich wegen eines Stipendiums in Venedig aufhalte, muss ich nur erwähnen, mich für Frauen im Widerstand zu interessieren, und Türen öffnen sich. Dort treffen ich und andere Autorinnen auch Edmund de Waal für einen gemeinsamen Austausch. Dieses Mal formuliere ich meine Dringlichkeiten, über die Vergangenheit zu erzählen, um sie mit den Drohungen der Gegenwart zu verbinden. Mein Treibstoff ist die Angst. Ich fürchte die Wiederauferstehung jener Gespenster in einer Generation, die auf Resten von damals und gegenwärtigen Ressentiments aufbaut.

Suche nach der Vergangenheit

Angst ist gleichzeitig der gemeinsame Nenner zwischen mir und den Menschen, die sich nach Autoritäten sehnen und sich gegen Einflüsse des Fremden schützen wollen. "Die Ethnologin Margaret Mead hat beschrieben, wie Leute mit dem fehlenden Gefühl sicherer Körpergrenzen die eigene Außengrenze mit den Landesgrenzen gleichsetzen. Ein in Bayern illegal einströmender Flüchtender bewegt sich also direkt ins Körperinnere eines Bewohners von Mecklenburg-Vorpommern." Das lese ich in einem Interview mit Klaus Theweleit. Nichts erscheint mir wahrer. So bin ich aufgewachsen, in einem ständigen Begrenzen.

Deshalb rührt meine Suche nach der Vergangenheit stets vom Kindheitshaus her, wo in der einen Hälfte die Anständigen, also wir, und in der anderen die Ausgegrenzten, vom Krieg übrig Gebliebene, Sozialfälle, Arbeitsscheue, Kleinkriminelle wohnten. Deshalb bin ich besessen davon, Stolperstorys zu erzählen, die wie Stolpersteine wirken – ein Innehalten im bequemen Ablauf des Alltags. Ich muss Geschichten von Häusern, von Möbeln, von Porzellan, von Hirschhornknöpfen, Spitzendecken und Trachtenmodeln rekonstruieren, um ein Gespräch zwischen damals und heute anzuzetteln, Emotionen hervorzurufen, wie in unserem Gespräch am Balkon, dem Vergleich unserer Erinnerungen an Grieskirchen. Das Re-Sonare der Geschichte, wie Aleida Assmann das nennt.

Sabine Scholl ist Schriftstellerin und lebt nach Aufenthalten in Portugal, den USA, Japan und Berlin wieder in Wien. Zuletzt erschien ihr Roman "O." (2020).
Foto: Heribert CORN, corn@corn.at

Noch vor Beginn der Diskussion mit De Waal in Venedig erwartete mich die Historikerin, die mir so viel über weiblichen Widerstand erzählt hatte. Ob ich schon angefangen hätte, das aufzuschreiben, fragt sie. Ungeduldig. Sie ist extra hergekommen, obwohl sie kaum Zeit hat, entschuldigt sich, dass sie früher gehen muss.

Jaja, schwindle ich, beschämt. In Wahrheit war ich ratlos vor dem Material gesessen, weil ich nicht wusste, wie ich seine Fülle in einen bereits existierenden Romanablauf einbinden sollte. Doch ich darf gar nicht zögern, wird mir in diesem Moment klar. Also setze ich mich daran und erfinde.

Weil der Umgang mit Dokumenten und Berichten, ihre Übersetzung in literarische Fiktion nicht einfach zu bewältigen ist, will ich mich mit anderen Schreibenden austauschen, die in dieser Arbeit bereits vorangekommen sind. So ist die Reihe "Geschichte schreiben" entstanden, in der an fünf Abenden in der Alten Schmiede Wien derartige Problematiken diskutiert werden. Sie beginnt am 1. Oktober mit Lesungen und Werkstattgesprächen.

Doch in den USA werde ich fast überall als Nachfolgerin jener Tätergeneration angesehen.

In Inger-Maria Mahlkes mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Roman Archipel wird am Beispiel einer Familie über fünf Generationen die abwechslungsreiche Geschichte Teneriffas nacherzählt. Die Autorin konzentriert sich dabei auf das private und familiäre Umfeld, den Blick ihrer Figuren auf geschichtliche Ereignisse. Sinnlich-poetische Beschreibungen von Wetter, Landschaft, Kleidung, Speisen ermöglichen es Leserinnen, tief einzutauchen. Die einprägsamste Erfahrung ist jedoch, dass Mahlke rückwärts erzählt, also tiefer und tiefer in die Vergangenheit dringt.

Literarischer Archäologe

Die Altorientalistin Kenah Cusanit erzählt in Babel von den Ausgrabungen rund um Babylon, welche der deutsche Bauforscher und Architekt Robert Koldewey geleitet und dafür gesorgt hatte, dass das berühmte Ischtartor letztlich in Berlin landete. Hier liegt die Konzentration weniger im Erlebten als in den Gedanken des Forschers. Cusanit arbeitet Unmengen von Material, wie Listen, Briefe, Instruktionen, Zitate, Diskussionen um Forschungsmethoden, in den Text ein. So entsteht eher der Eindruck eines vielschichtigen Gemäldes als einer Erzählung. Mit dieser Überlagerung des Gegenstands durch Diskurse gelingt es Cusanit, die Arbeit des Archäologen literarisch nachzuvollziehen. In "Geschichte schreiben" geht es um die Vergegenwärtigung von Geschichte und um die Balance zwischen Fakt und Fiktion. Seien Sie eingeladen, zuzuhören, mitzudenken, sich zu beteiligen. (Sabine Scholl, ALBUM, 26.9.2020)