Großvater Leon war Bergarbeiter. Er hat in einem Kohlebergwerk im tiefsten Schlesien gearbeitet. Sein Spezialgebiet waren niedrige Stollen, in denen man meistens nur noch kriechend und robbend vorwärtskam, denn das sorgte dafür, dass am Monatsende nicht nur mehr Staub in der Lunge, sondern auch mehr Geld im Kuvert war. Opa Leon und Oma Gertruda wohnten in einem typischen Bergarbeiterhaus, mit dunkel gebranntem Backstein an der Fassade und bunt gestrichenen Fenstern, in einem so genannten Familok. Die Großeltern sind längst tot, und mit dem Aussterben der Bergarbeiter sind in großen Teilen Schlesiens auch die Familoki, Symbole der Kohleindustrie, Schandflecken ganzer Generationen, verschwunden.

Würdigen statt umbringen

"Auch wir wollten intuitiv den einen letzten Familok, der hier stehen geblieben ist, abreißen und auf das Grundstück, das rundherum seit Jahrzehnten als Parkplatz genutzt wurde, einen modernen Campus hinstellen", erinnert sich Rafał Zelent, Partner in der Grupa 5 Architekci. "Aus polnischer Sicht hat das Alltägliche und Allgegenwärtige unserer Kindheit offenbar keinen hohen Stellenwert. Viele diese Bauten sind mit Scham und Armut punziert." Zum Glück gab es da noch das katalanische Büro BAAS Arquitectura mit Sitz in Barcelona. Chefarchitekt Jordi Badia zog die Notbremse, sprach seinen polnischen Kollegen ins Gewissen und konnte sich mit seiner Idee, den Genius Loci zu würdigen, anstatt ihn umzubringen, durchsetzen.

Auf der Suche nach der schlesischen Identität: Fakultät für Radio und Fernsehen in Katowice.
Foto: Adrià Goula

Ulica Pawła 3, mitten im Stadtzentrum, ein paar Hundert Schritte hinter dem Teatr Śląski. Es hat gerade geregnet. Das graue Wetter bringt die raue Schönheit dieses Ortes auf eigentümliche Weise zum Glänzen. Inmitten von grau verputzten Wohnhäusern aus der Nachkriegszeit hat der alte Familok, aus dem zuletzt schon büschelweise Gräser und Stauden aus den Mörtelfugen wucherten, ein edles Passepartout erhalten. Und eine neue Funktion: Hinter der geziegelten Fassade verbirgt sich die Fakultät für Radio und Fernsehen der Schlesischen Universität Katowice, das sogenannte Krzysztof-Kieślowski-Zentrum. Letzten Mittwoch wurde das außergewöhnliche Projekt aus der Feder von BAAS, Grupa 5 Architekci und Małeccy Biuro Projektowe mit dem Brick Award 2020 ausgezeichnet.

Leicht trotz Dunkelheit

"Der dunkle Klinker, wie er in Südpolen eingesetzt wird, steht üblicherweise für eine gewisse Schwere und Dramatik", sagt die schwedische Architektin Helena Glantz, die im Auftrag der Wienerberger Group die Jury leitete. "Wir waren wirklich beeindruckt davon, wie es gelungen ist, mit so einem dunklen Material so viel Leichtigkeit und Luftigkeit zu schaffen. Dieses Projekt ist ein Prototyp für den Umgang mit Geschichte und Identität." Weitere Preise gingen an das Stadtarchiv Delft in den Niederlanden (Office Winhov und Gottlieb Paludan Architects), an das "Iturbide Studio" in Mexiko-Stadt (Taller Mauricio Rocha und Gabriela Carrillo), an das Wohnhaus "Can Jaime i n’Isabelle" in Palma de Mallorca (TEd’A arquitectes), an die Maya-Somaiya-Bibliothek im indischen Kopargaon (Sameep Padora & Associates) sowie an einen Einfamilienhaus-Prototypen für ländliche Regionen, der von der Rwanda Housing Authority in Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston entwickelt wurde. Letzterer soll in Kigali nun als Vorbild für viele weitere Low-Cost-Häuser dienen.

"Auch wir hatten mit einem vergleichsweise niedrigen Budget zu kämpfen", sagt Rafał Zelent, zurück in Katowice. Rund 30 Millionen Złoty, knapp sieben Millionen Euro, hat das Projekt gekostet. "Daher haben wir beschlossen, die Haustechnik so einfach wie möglich zu belassen und im ganzen Gebäude auf natürliche Belüftung zu setzen. Stattdessen haben wir das Geld in eine hochwertige materielle Sprache investiert. Uns war wichtig, dass das Haus robust und konsequent wirkt. Und dass es an die Tradition Schlesiens anknüpft."

Schlesische Patina

Nachdem sich die neue Fassade in die von Ruß und Staub bedeckte Stadtumgebung fügen sollte, wurde sogar ein eigener Backstein entwickelt. Nicht weit von Katowice fand sich die kleine Ziegelmanufaktur Patoka, eine der letzten ihrer Art, die ihre Brennöfen mit Kohle be feuert. Durch die alte Brenntechnik einerseits, durch die Zugabe von Asche und Kohlestaub zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Brennvorgangs andererseits entstand eine dunkle, speckige, ja irgendwie zutiefst schlesische Patina.

"Trotz der eindeutig modernen, schlichten und reduzierten Architektur", sagt Jordi Badia, BAAS in Barcelona, "kann es passieren, dass man an der neuen Fakultät für Radio und Fernsehen einfach vorbeiläuft. Alles ist aus Klinker, vorn, seitlich, die Böden, die Untersichten, die vorgehängte Fassade. Man fühlt sich, als würde man sich selbst durch einen einzigen, riesengroßen Ziegelstein bewegen." Durch die tausendfach perforierte Fassade – die Architekten haben den selbst designten Fassadenziegel mit dem rechteckigen Loch in der Mitte "Telewizorek" getauft – gelangt diffuses Licht in den Innenraum. Im ehemaligen Familok befindet sich heute die Bibliothek.

"Wir haben eine Architektur geschaffen, die nicht schreit, sondern die sich flüsternd in die Nachbarschaft fügt", sagt Rafał Zelent. So flüsternd, dass man gerne zuhören möchte. "Und was gestern noch Schande war und auf Ablehnung stieß, auch bei uns im Büro, um ehrlich zu sein, wird in den heute lebenden Generationen vielleicht dazu beitragen, dass die Menschen den Wert ihrer spezifischen Architektur anerkennen und ihre Stadt mit Stolz weiterentwickeln." Leon und Gertruda würden sich wundern. (Wojciech Czaja, 26.9.2020)