Verwaltungsexperte Raoul F. Kneucker: "Die Bürokratien sind verschieden sozialisiert. Die Länderbeamten pflegen eifersüchtig Heimatstolz und Eigenart."

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Von außen betrachtet, gibt es nur die Republik Österreich: Sie ist Mitglied der Europäischen Union – und wo es beispielsweise Unionsrecht umzusetzen gilt, muss Österreich dafür geradestehen, dass das auch passiert.

So sieht man es in Wien, so sieht man es in Brüssel und natürlich auch im Rest der Welt: Da kennt man die schönen Länder von Burgenland bis Vorarlberg als Reiseziele und nimmt allenfalls nebenbei wahr, dass sie auch Verwaltungseinheiten sind. Wien natürlich auch, wobei hier das Städtische so überwiegt: Im In- und Ausland nimmt man Herrn Michael Ludwig als Bürgermeister wahr und tituliert ihn auch selbstverständlich so. Dass er gleichzeitig auch Landeshauptmann eines Bundeslandes ist, dass die Wiener Stadträte die Aufgaben von Landesräten haben, wird allenfalls in Wahlkampfzeiten deutlich. Also jetzt. Und da wird mit gegenseitigen Vorwürfen nicht gespart – die Bekämpfung der Corona-Pandemie liefert aktuelle Beispiele.

Dahinter steckt aber ein Prinzip. Und dieses Prinzip ist in Artikel 2 des Bundesverfassungsgesetzes festgeschrieben. Da steht in aller vom Bundespräsidenten gelobten Schönheit der Satz: "Österreich ist ein Bundesstaat." Der zweite Absatz zählt die "selbständigen Bundesländer" auf, und der dritte Absatz garantiert den Bundesländern, dass ihre Rechte nicht einseitig vom Bundesgesetzgeber eingeschränkt werden können.

Das also ist die verfassungsrechtliche Grundlage des Föderalismus – Landesverwaltung und Landespolitik nehmen sich daher besonders wichtig. Das hatte enorme Bedeutung bei der Gründung der Republik nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs, als nicht von Anfang an klar war, was überhaupt das Bundesgebiet von "Deutschösterreich" und der daraus entstehenden "Republik Österreich" sein würde. Das mehrheitlich deutschsprachige Sudetenland und Südmähren wollten ja eigentlich dabei sein, ebenso das Burgenland und Teile Kärntens – umgekehrt strebte die Mehrheit der Vorarlberger in der Volksabstimmung 1919 eher zur Schweiz.

1945 wurde das noch einmal relevant, weil die provisorische Staatsregierung Renner ja im sowjetisch besetzten Osten Österreichs amtierte: Im Westen herrschten Zweifel, ob es klug wäre, sich in einen Staat in den Grenzen der Ersten Republik einzugliedern.

Wiener "Wasserkopf"

Inzwischen ist es in allen neun Ländern anerkannt, dass es sehr wohl klug war.

Aber viele Vorbehalte aus der Zeit der Ersten Republik sind geblieben: Zunächst die Erkenntnis, dass der Verwaltungsapparat der Republik – übernommen von der Monarchie – zu stark aufgebläht und zu schwerfällig sei. Am 16. Dezember 1918 findet sich erstmals im Allgemeinen Tiroler Anzeiger der Begriff vom "Wasserkopf" Wien in einem Bericht über eine Kundgebung der Tiroler Gewerbetreibenden, die sich von diesem Wasserkopf frei machen wollten. Vier Monate später kommt der Begriff dann im Wiener Tagblatt vor – Wien war damals von Armut, Hunger und Wohnungsnot geprägt und galt als besonders hilfsbedürftig.

Dass die Wiener Stadt- und (ab 1920) Landesregierung dem aus eigener Kraft – unter anderem mit den von Finanzstadtrat Hugo Breitner eingeführten Wohnbau- und Luxussteuern – zu entkommen suchte, machte die konservativen Kreise in den anderen Bundesländern noch skeptischer: Führte das "Rote Wien" nicht gerade vor, wie die Roten die Besitzenden enteignen? Diente nicht letztlich alles nach Wien abgeführte Steuergeld irgendwie der Aufblähung jenes "Wasserkopfs", der sich nun immer deutlicher rot färbte?

Diese Sorgen trieben die Politiker und die Medien in den Bundesländern um – und es etablierte sich ein politisches Ritual, das bei Gelegenheit zelebriert wird. Der frühere steirische Landeshauptmann Josef Krainer jun. (ÖVP) drohte stets, man werde "steirisch" mit der Bundesregierung reden, wenn ihm ein Projekt des Bundes (etwa die Stationierung von Abfangjägern oder die Verzögerung von Infrastrukturvorhaben) nicht passte.

Das hatte in der Praxis wenig Bedeutung – in der Steiermark sicherte es seiner ÖVP verlässlich die Mehrheit bei Landtagswahlen, obwohl die steirische Wählerschaft bei Nationalratswahlen mehrheitlich SPÖ wählte. In Oberösterreich war das ähnlich.

Wobei die Zusammensetzung der Landtage als gesetzgebende Körperschaften in der öffentlichen Wahrnehmung nur einmal Bedeutung gewinnt: dann, wenn es darum geht, die Landesregierung und den Landeshauptmann zu wählen – die Wahlkämpfe sind entsprechend auf die Spitzenkandidaten zugeschnitten. Dass die jeweiligen Landeshauptleute lange Zeit in einer seltsamen Mischung aus Scherz und Hochachtung als "Landeskaiser" bezeichnet worden sind, ist typisch für die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird.

Dass die Landtage dann Landesgesetze zu Naturschutz und Jagd, zu Gesundheits- und Feuerwehrwesen beschließen und selbst beim Jugendschutz landestypische Eigenarten (Argument: Städtische Jugend ist eben anders als ländliche) pflegen, gilt als teure Besonderheit der bundesstaatlichen Verfassung.

Tatsächlich ist es schwer zu verstehen, dass Österreich neun verschiedene Bauordnungen hat. Oder dass der Adler, Österreichs Wappentier, zwar in allen Bundesländern unbehelligt von der Jägerschaft fliegen darf – aber in jedem Land aufgrund anderer gesetzlicher Schutzbestimmungen. Die kann ein Adler ohnehin nicht lesen, die derzeit umstrittenen Wolfsrudel auch nicht. Dass der Naturschutz formell Landessache ist, müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen – und das hat sich auch herumgesprochen. Weniger bekannt ist, dass wichtige naturschutzrechtliche Belange ohnehin den Richtlinien der EU zu folgen haben – Adler und Wolf sind demnach zu schützen, um einen "guten Erhaltungszustand" sicherzustellen. Näheres mögen Landesgesetze bestimmen, der EU gegenüber muss es der Bund verantworten.

Zentrale Frage der Bürgernähe

Es wäre andererseits schwer denkbar, dass sich etwa alle Kompetenz in Naturschutzsachen in einem Wiener Ministerium – womöglich mit je einer Abteilung für ein Bundesland – sinnvoll konzentrieren ließe. Kenner der Materie bezweifeln auch, dass es billiger wäre. Denn letztlich müssten ja doch die Praktiker vor Ort entscheiden.

Der unter der Regierung Wolfgang Schüssel einberufene Österreich-Konvent (2003–2005) sollte mit einer Bundesstaatsreform entwirren, was man entwirren konnte. Funktioniert hat es nicht. Die Ländervertreter pochten auf "historische Rechte" sowie "Bürgernähe" und forderten mehr statt weniger Kompetenzen.

Sie verhinderten selbst Kleinigkeiten wie die Reform der Besteuerungsrechte und die Reform der staatlichen Schulverwaltungen, die bereits weitgehend außer Streit gestellt worden waren. Der Verwaltungsexperte Raoul F. Kneucker ergänzt in seinem Buch Bürokratische Demokratie einen weiteren Aspekt: "Die Bürokratien des Bundes und der Länder sind verschieden sozialisiert, wie ich aus meinen eigenen beruflichen Erfahrungen bestätigen kann. Es besteht vor allem kein gemeinsamer Ausbildungsweg; die Länder betreiben ihre eigenen Verwaltungsakademien. Die Länderbeamten pflegen eifersüchtig Heimatstolz und Tradition und Eigenart." (Conrad Seidl, 26.9.2020)