Die Gerichtszeichnung zeigt einen der Hauptangeklagten im Prozess.

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Es mag absurd klingen, aber Zarie Sibony, damals Kassiererin im jüdischen Supermarkt Hypercacher von Paris-Vincennes, erinnert sich an ein Detail: Sie schob gerade ein gefrorenes Stück Hühnerfleisch über das Rollband, als ein schwerbewaffneter Mann hereinstürzt. Es ist 13.04 Uhr an jenem 9. Jänner 2015. Zarie denkt an einen Überfall, bietet den Kasseninhalt an, doch der Eindringling lacht nur: "Glaubst du wirklich, dass ich fürs Geld gekommen bin? Hast du nicht gehört, was seit zwei Tagen bei Charlie Hebdo abgeht?"

Jetzt versteht Zarie. Die 22-Jährige muss mitansehen, wie "der Terrorist", nur so nennt sie ihn, auf ihren ebenso jungen Ladenmitarbeiter Yohan Cohen schießt. Dann fragt er einen Kunden: "Wie heißt du?" – "Philippe." – "Philippe wie?" – "Braham." Zwei Schüsse töten den 45-Jährigen. Weil der Name jüdisch klingt. Den 17 Kunden im Laden erklärt Amedy Coulibaly, so heißt der Jihadist, er hasse "zwei Dinge": Juden und Franzosen. Dann wendet er sich wieder der Kasse zu, unter der sich Zarie versteckt: "Ha, bist du noch nicht tot?"

Das berichtete die grazile, heute 28-jährige Frau diese Woche im Pariser Justizgebäude. In einen grauen Faltenrock und eine altmodische weiße Bluse gekleidet, machte sie tapfer ihre Aussage vor den vielen Richtern, Anwälten, Angeklagten und Zuschauern. "Ich war sicher, zu sterben", sagte sie. "Ich betete, dass es wenigstens schnell gehen würde, mit einem Kopfschuss oder so, nicht lang und schmerzvoll wie bei Yohan." Ihr Kollege ringt unweit von ihr mit dem Tod. Das Ende der vierstündigen Geiselnahme erlebt er nicht mehr.

"Gekommen, um zu sterben"

Nun lästert Coulibaly nicht länger. Er richtet sein Sturmgewehr auf die Kassiererin, schießt. Aus. Als Nächstes sieht Zarie einen Einschuss "ein paar Millimeter neben meinem Kopf". Das heißt, sie lebt. Doch der Horror geht weiter. Der Geiselnehmer befiehlt ihr, den eisernen Rollladen runterzulassen. Zarie verwechselt zuerst den Druckknopf; so vermag ein neuer Kunde gerade noch einzutreten. Die Kassiererin versucht, ihn abzuhalten, aber er hört nicht hin, weil er gerade telefoniert. Als er Sekunden später Coulibaly bemerkt, ist es schon zu spät: François-Michel Saada (63) stirbt noch am Eingang, kaltblütig erschossen.

Danach muss die Kassiererin die in den Kühlraum geflüchteten Kunden aus dem Untergeschoss holen. Einer von ihnen, Yoav Hattab (21), ergreift eine Kalaschnikow des Attentäters, versucht, auf Coulibaly anzulegen. Doch der Abzug klemmt. Yoavs Todesurteil.

Noch jetzt, mehr als fünf Jahre später, kann Zarie Sibony ihr Schluchzen nicht immer zurückhalten. Ihre Hände verkrampfen sich, Tränen rollen in ihren weißen Mundschutz. Doch mit gebrochener Stimme schildert sie weiter das Grauen. Wie sie die Polizei anrufen musste, wie Coulibaly mit einem TV-Sender telefonierte. Der Killer wollte seine absurden Theorien kundtun: "Ihr Juden liegt falsch. Für euch ist das Leben am wichtigsten, doch für den Propheten ist der Tod wichtiger. Ich bin gekommen, um zu sterben."

Das tut er um 17.10 auch, als die Polizei das Geschäft stürmt. Zarie fragt sich noch heute, warum er sie nicht umgebracht hatte. Verfehlte er sie vielleicht mit Absicht, weil sie eine Frau ist? Wohl kaum: Am Vortag hatte der Terrorist in Paris-Montrouge die Polizistin Clarisse Jean-Philippe auf offener Straße erschossen. Noch einen Tag früher hatten Coulibalys Komplizen, die Brüder Kouachi, in der Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo zwölf Karikaturisten und andere erschossen. Sie behaupteten, sie schössen nicht auf Frauen, brachten aber auch die Mitarbeiterin Elsa Cayat um.

Wunden sind nicht verheilt

Vor Gericht präsentierten die Ermittler erstmals Bilder der dreitägigen Terrorserie, die Frankreich in den Grundfesten erschütterte. Andere Aussagen bestätigten die eiskalte, unfassbare Brutalität des Vorgehens. Viele Angehörige verließen den Saal. Auch 2020 sind die Wunden nicht verheilt.

Zarie Sibony lebt heute in Israel; sie ist Krankenschwester geworden, um für solche Fälle gewappnet zu sein, wie sie sagt. Die junge Frau hat Angst vor einem neuen Anschlag, wenn sie zum Beispiel im Flugzeug sitzt. Auch fühlt sie sich schuldig, weil sie überlebt hat. Und weil sie den Rollladen nicht schneller gesenkt hatte.

Frankreich bleibt indes in Sorge. Der jemenitische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida hat Mitte des Monats zu neuen Anschlägen gegen Charlie Hebdo aufgerufen. Am Freitag wurde in der Nähe der ehemaligen Redaktionsräume dann tatsächlich ein Messerattentat verübt. Auch in Pakistan und im Iran gibt es neue Proteste gegen das Satiremagazin.

Nach der Feststellung des Hergangs der Attentate von 2015 geht der Prozess nun in seine zweite Phase. In Ermangelung der umgekommenen Hauptattentäter – Coulibaly und die Brüder Kouachi – müssen sich 14 zweitrangige Angeklagte wegen Waffenlieferungen und kleineren Hilfsdiensten verantworten. Sie alle wollen von einer Terrorabsicht nichts gewusst haben. Ihr Schicksal interessiert die Franzosen – zumal in der aktuellen Corona-Krise – nur sehr beschränkt. Wichtiger ist, dass das Trauma der Anschläge erstmals überhaupt in Worte gefasst wird. Der Charlie Hebdo-Prozess ist in Wahrheit eine nationale Gesprächstherapie. (Stefan Brändle aus Paris, 25.9.2020)