Wer in der Öffentlichkeit einen Jogginganzug trägt, muss feststellen, dass er die Kontrolle über sein Leben verloren hat." Pointierter als Karl der Große, der göttliche Kaiser Karl, von Cocos Gnaden, Lagerfeld hätte es Helena Rubinstein (1870–1965) auch nicht sagen können. Denn sehr weit entfernt war ihre Sicht der Dinge nicht. Aber gemach, einen Schritt zurück bitte. Selbstverständlich war auch das Bildnis der Grande Dame der Kosmetik nicht. In die Wiege gelegt auch keineswegs, wie eine neue Biografie, verfasst von Ingo Rose und Barbara Sichtermann, luzide beleuchtet.

Geboren wurde Helena Rubinstein – die Erfinderin der modernen Kosmetik – in Krakau, exactement in Kazimierz, dem Judenviertel der Stadt, im Jahr 1870 als älteste Tochter von Hertzel und Augusta Rubinstein (geborene Silberfeld). Ihre Erfolgsgeschichte begann 1902 in Melbourne, als eine Schauspielerin ihr "Maison de Beauté" betrat und drei Tiegel einer Gesichtscreme erstand. Eine kleine Charade führte zur Legendenbildung – ein erfundenes Medizinstudium, Abstammung aus Russland, ein Landgut, das nicht existierte, und die Melange der Realität taten das Ihre. Der Aufstieg war aber den Lotionen und Cremes selbst zu verdanken – und dem "richtigen Riecher", zur richtigen Zeit an richtigen Ort zu sein. Die Familie der Rubinsteins und Silberfelds ist bis ins elfte Jahrhundert zurückzuverfolgen – unter den Vorfahren waren etliche Rabbis und Gelehrte, unter anderem Raschi von Troyes, ein berühmter Kommentator der Bibel, des Talmud. Viele Vorfahren waren in Wien, Antwerpen, Polen und Australien ansässig. Diesen Weg hatte auch Helena Rubinstein genommen. In Wien hatte sie einige Jahre gelebt, bevor sie nach Australien und später in die USA ging, wo sie letztendlich zur Ikone und Königin der Kosmetik- und Schönheitsindustrie aufstieg. Gegen jede Chance – als Immigrantin, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld, ohne jedwede Unterstützung. Selbst ihr Name "Helena" war "entlehnt" – von der schönen Helena von Troja. Bei Geburt hatten ihre Eltern ihr eigentlich der Vornamen Chaja gegeben.

Ingo Rose, Barbara Sichtermann, "Augen, die im Dunkeln leuchten. Helena Rubinstein. Eine Biografie". € 24,– / 320 Seiten. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2020
Foto: Verlag Kremayr & Scheriau

Detailverliebt und wortgewandt beschreibt das Autorenduo Rose und Sichtermann die Metamorphose zu einer der einflussreichsten Frauen des 20. Jahrhunderts, ihren Weg, ihren Aufstieg, ihr Imperium. Über das Biografische hinweg zeigt die Vita gesellschaftlichen Wandel in Europa und in den USA. Im Zuge der Geschichte gerät das Leben des jüdischen Mädchens aus der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn zum Spiegelbild der Veränderung.

Interessant, dass sie gemeinsam mit Estée Lauder, die ebenfalls aus der österreichisch-ungarischen Monarchie stammte, über viele Jahrzehnte hinweg die zwei hellsten Fixsterne am Firmament der internationalen Kosmetikindustrie bildete. Ausgerechnet aus einem Land stammend, in dem man auch im jungen 21. Jahrhundert immer noch – Achtung, Ironie! – eher Kandidatinnen für die Wahl der "Miss Achselbart" findet als der Ästhetik Verpflichtete, wo ein als Frau gestylter Mann mit wallender langer Mähne und einem akkurat getrimmten Dreitagesbart, für Toleranz und Respekt "for all that are dared to be different" eintretend, noch immer für Aufsehen sorgt und die Gemüter erregt.

Aber so bewahrheitet sich einmal mehr, was schon Stilikone Marlene Dietrich vor über einem halben Jahrhundert lapidar und zugleich leichtfüßig-tändelnd festgestellt hatte: "Über die Mode von gestern lacht man, aber für die Mode von vorgestern begeistern wir uns, wenn sie die Mode von morgen zu werden verspricht." (Gregor Auenhammer, 25.9.2020)