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Unter "Begrenzungsinitiative" hat die SVP das Referendum lanciert.

Foto: AP/Peter Schneider

Ein vielleicht zehn Jahre altes Mädchen erzählt in einem Video aus ihrem schönen Leben – und ihrem schönen Land. "Ich sehe Berge groß und stark", schwärmt die Kleine. Sie nimmt den Zuschauer mit in eine Schweiz aus dem Bilderbuch. Bäche, Wiesen, Wälder.

Dann kommt sie in eine Großstadt. Hochhäuser, Verkehr, Lärm, Müll, Stress. Das Mädchen klagt: "Immer mehr wollen in die Schweiz. Und das obwohl wir gar keinen Platz haben für alle." In Hintergrund stehen zwei kräftige, junge Männer. Sie sind dunkelhäutig. Der Clip schürt Furcht vor den Fremden – und richtet sich an die Schweizer Stimmbürger: Entscheidet euch am Sonntag in der Volksabstimmung für die sogenannte "Begrenzungsinitiative", heißt die Botschaft.

Hinter der Begrenzungsinitiative steht die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie will die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden. Bern und die EU sollen innerhalb von zwölf Monaten das seit 2002 geltende Abkommen außer Kraft setzen. Gelingt das nicht, muss die Schweiz das Abkommen innerhalb von weiteren 30 Tagen kündigen.

Falls die Eidgenossen dem Plan zustimmen, würde das kleine Land in der Mitte Europas auf einen Konfrontationskurs mit der großen EU einschwenken. Die Regierung, das Parlament, fast alle Parteien und Wirtschaftsverbände warnen deshalb eindringlich vor einem Ja.

"Wieder Chef im eigenen Land"

Der Widerspruch spornt die Hardliner in der SVP geradezu an. "Mit dieser Initiative sind wir wieder Chef im eigenen Land", verspricht der SVP-Abgeordnete und Verleger der "Weltwoche", Roger Köppel. Tatsächlich leben in der Schweiz rund 8,6 Millionen Menschen, darunter rund 2,2 Millionen Ausländer. Mehr als 1,4 Millionen der Ausländer stammen aus einem EU-Land oder Norwegen, Island und Liechtenstein. Allerdings halbierte sich die sogenannte Nettozuwanderung aus Europa in die Schweiz in den vergangenen sieben Jahren: 2019 wanderten nur noch rund 32.000 Menschen mehr nach Helvetien ein als aus.

Doch die Strategen der SVP spielen weiter mit der Angst. "Lassen Sie Ihre Haustür sperrangelweit offen, damit jeder hereinkommen kann?", lautet die rhetorische Frage. In der Welt der SVP sind die zugezogenen Menschen für fast alles Schlimme verantwortlich: überfüllte Straßen, Staus, steigende Mieten, Arbeitsplatzverlust, Lohndruck. Die Zuwanderer, so doziert SVP-Journalist Köppel, "produzieren Abfall und Abgas".

Fremdenfeindliche Slogans, auch gegen Deutsche

Und sie machen die Schweiz unsicher. "Migrantinnen und Migranten sind vor allem bei schweren Gewalt- und Sexualdelikten als Täter massiv übervertreten", heißt es in den Broschüren der Begrenzungsinitiative. Die Personenfreizügigkeit verhindere die "Ausschaffung", also die Abschiebung krimineller EU-Ausländer.

Vor allem aber bezichtigen die Initiatoren die EU-Ausländer der "Plünderung" der Schweizer Sozialkassen. So berichtet die SVP-Abgeordnete Martina Bircher von einem deutschen Bodenleger. Der Schweizer Arbeitgeber habe ihn entlassen. Seine Frau habe daraufhin ihren Job gekündigt. "Es war klar, das deutsche Ehepaar hatte schlicht keine Lust zu arbeiten, trotzdem können sich die beiden zurücklehnen und vom gut ausgebauten Schweizer Sozialstaat leben", wettert die SVP-Abgeordnete.

Noch schlechter als die Deutschen schneiden bei der SVP fast nur die Osteuropäer ab. So lässt sich der Abgeordnete Andreas Glarner zitieren: "Vor allem Zuwanderer aus östlicheren Staaten wie Rumänien, Bulgarien oder Polen beziehen überdurchschnittlich häufig Arbeitslosengelder."

"Guillotine-Klausel"

Auf die brachiale Kampagne reagiert die Schweizer Regierung, der Bundesrat, mit Sachlichkeit. "Jetzt ist nicht der Moment für Experimente", betont Justizministerin Karin Keller-Sutter mit Blick auf die Corona-Pandemie. Sollten die Schweizer die Begrenzungsinitiative gutheißen, so warnt die Ministerin aber, wäre die Kooperation zwischen der Schweiz und der EU "akut gefährdet".

Denn das Freizügigkeitsabkommen gehört zu sieben sogenannten bilateralen Abkommen, die zwischen der Schweiz und Brüssel gelten. Diese Abkommen "ermöglichen der Schweizer Wirtschaft einen direkten Zugang zum europäischen Markt", heißt es aus der Schweizer Regierung. "Wird das Freizügigkeitsabkommen gekündigt, so treten automatisch auch die anderen sechs Abkommen außer Kraft." Diesen Automatismus kennen die Schweizer als Guillotine-Klausel. Greift die Klausel, dürfte der wirtschaftliche Schaden für die Exportnation Schweiz verheerend sein – ist doch die EU der mit Abstand größte Handelspartner der Schweiz. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 25.9.2020)