Österreichs Landwirtschaft ist auf tausende Erntehelfer aus dem Ausland angewiesen. Die Politik hat sich bisher kaum für sie interessiert. Seit Ausbruch der Corona-Krise steht die Branche unter Beobachtung.

Foto: Christian Fischer

Paradeiserstauden so weit das Auge reicht. Stramm wie Soldaten stehen sie in 400 Reihen im Schutze eines riesigen Glashauses. Die Wurzeln in Kokossubstrat, über Leitungen mit einer Nährlösung getränkt, ranken sie sich dem künstlichen Himmel entgegen. Musik rieselt aus Lautsprechern, begleitet vom leisen Rattern einer Kette, die Wägen gefüllt mit Rispentomaten in die Lagerhalle zieht. Eine Gruppe Männer, Trinkflaschen unter den Arm geklemmt, durchmisst beim Schichtwechsel das weitläufige Areal. Radfahrer schlängeln sich an ihnen vorbei. Sie alle verlieren sich rasch im Dickicht des Grün.

Martin Merschl, Landwirt in Wien-Donaustadt: "Ich würde gern das Doppelte zahlen, aber das geben Paradeiser nicht her."
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Martin Merschl zupft ein Blatt von der Staude, zwickt Tomaten von der Rispe und legt sie in die Steigen. "Ist es hinter der Kassa eines Supermarkts schöner?" Über sieben Hektar erstrecken sich seine Glashäuser an der Wiener Peripherie hart an der Grenze zum Marchfeld. Drei Millionen Kilo Paradeiser baut er hier jährlich an. Die Logistik ist hochautomatisiert, die Ernte Handarbeit. Kisten schleppen muss keiner.

1.450 Euro Mindestlohn

60 Leute arbeiten für ihn, überwiegend Rumänen und Slowaken. Einige pendeln täglich über die nahe Grenze, andere leben mit ihren Familien seit Jahren im Umkreis. Ab 8. Jänner wird ausgepflanzt, bis 20. November geerntet und bis Mitte Dezember geputzt. Allein über die Weihnachtsfeiertage kehrt Stille im Gewächshaus ein.

Der Kollektivvertrag sieht für den Job monatlich 1450 Euro brutto vor. Merschl legt die Hälfte davon drauf, um gute Mitarbeiter zu halten, sagt er. "Ich würde ja gern das Doppelte zahlen. Aber das geben Paradeiser nicht her."

Paradeiser über sieben Hektar. Die Ernte ist Handarbeit. Österreicher finden sich dafür kaum.

Die Debatten über Lohn- und Sozialdumping in der Landwirtschaft treiben ihm Zornesfalten auf die Stirn. Auf Knopfdruck kenne das Finanzamt seine Umsätze, er rechne jede Minute Arbeitszeit korrekt ab. Die Behörde zähle vor den Toren des Glashauses Leute, die ein- und ausgingen. "Sie schwarz zu zahlen, kann ich mir nicht leisten."

Ein Marchfelder Salatproduzent handhabte es lockerer. Er meldete seine Belegschaft verspätet oder gar nicht bei der Sozialversicherung an, zahlte den halben Mindestlohn und ließ sie bis zu 100 Stunden die Woche arbeiten. Er ist nun ein Fall für die Justiz.

Verfahren wegen Lohndumping

Gegen einen Marchfelder Spargelbauern strengt die Gewerkschaft ein Verfahren wegen Unterbezahlung einer rumänischen Erntehelferin an. Der Betrieb musste seine Arbeiterunterkünfte zeitweise schließen und sanieren. Er weist jede Schuld von sich. In Tirol gingen die Sozialpartner im Frühjahr gegen einen Personalvermittler wegen des Verdachts auf Lohndumpings vor.

Gurken am laufenden Band. Sie wachsen auf Steinwolle, jeder Pflanze fließt exakt dosierte Nahrung zu. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Über der Donau in Simmering baut Andreas Ableidinger mehr als drei Millionen Gurken im Jahr an. Die roten T-Shirts seiner Mitarbeiter leuchten durch die Stauden, die Mittagshitze unter Glas treibt Besuchern den Schweiß ins Gesicht. Gabelstapler durchkreuzen das Gelände. Am Eingang zum Gewächshaus brummt die Düngeanlage, die dem auf Steinwolle gepflanzten Gemüse exakt dosierte Nahrung zuführt.

Harte Auslese

Die Gurken werden bis auf Sonntag täglich gewogen und gepflückt. Gekrümmte sortiert der Gärtner bereits als Winzlinge aus. "Liegen im Supermarkt zehn gerade neben einer verbogenen Gurke, bleibt die gekrümmte liegen, es sei denn, sie ist günstiger. Schönheit zählt." Wie der Paradeiserzüchter Merschl komme auch er mit 40 Stunden Arbeitszeit die Woche für seine Leute aus. Produktion unter Glas sei gut planbar. "Spätestens nach zehn Stunden fällt die Leistungskurve ohnehin rapide ab", ergänzt Merschl.

Liegen im Supermarkt zehn gerade neben einer gekrümmten Gurke, bleibt die verbogene liegen.

Bis zu zwölf Rumänen beschäftigt Ableidinger zwischen Jänner und November. Manche sind seit zehn Jahren hier, einige sehen ihre Kinder nur während des Urlaubs, der Jüngste ist 15. Der Wiener baute neben dem Glashaus ein neues Haus für sie. Ein Container, der einst eine Schlafstätte barg, dient nur noch als Raucherkammerl. Es ist blitzsauber, effizient, nüchtern. Zimmer mit ein bis zwei Betten, zwei Küchen, mehrere Bäder, kaum persönliche Gegenstände. Drei Fußbälle lockern die Strenge des Vorplatzes auf. "Unsere Leute sind unser Kapital, sie bleiben nur, wenn sie sich wohlfühlen."

Acht Euro für die Stunde

Der Stundenlohn beträgt in Wien laut Kollektivvertrag 8,36 Euro brutto, fürs Wohnen verlangt Ableidinger nichts. Vor Jahren schickte ihm das AMS Österreicher. 90 Prozent holten sich nur den Stempel ab, erinnert er sich. Die Übrigen ließen ihn wissen, dass sie nicht mehr als zwei Kilo heben und keineswegs vor acht Uhr früh beginnen.

Die höhere Arbeitslosigkeit im Zuge der Corona-Krise habe daran nichts geändert. Nur einmal fragte ihn ein Pilot, der des Daheimsitzens überdrüssig war, ob er während des Shutdowns mitanpacken dürfe.

Andreas Ableidinger, Gärtner in Simmering: "90 Prozent der Österreicher holten sich bei mir nur den Stempel ab. Die Übrigen wollten maximal zwei Kilo heben und nicht vor acht Uhr früh beginnen."

Auch Elisa Kahlhammer sieht sich regelmäßig bei den Landwirten rund um Wien um. Ihr Antrieb ist ein anderer. Sie klärt Erntehelfer im Auftrag von Gewerkschaft, Aktivisten und NGOs über ihre Rechte auf. Anfang September führte sie die Kampagne Sezonieri auf die Felder Simmerings. Wie so oft zuvor stieß sie auch diesmal auf Schwarzarbeit. "Ein Teil der Belegschaft wird angemeldet, der Rest nicht."

Österreichs Landwirte beschäftigen 15.000 Erntehelfer, mehr als 95 Prozent kommen aus dem Ausland. Viele entfliehen, angeheuert von Vermittlern, ärmsten Verhältnissen. Die Bereitschaft zur Selbstausbeutung ist hoch, über hiesige Arbeitsgesetze wissen sie kaum Bescheid, berichten Gewerkschafter.

Angst um den Job

Fehlende Sprachkenntnisse, die Angst um den Job und Scheu vor Behörden verhinderten, dass korrekte Stundenabrechnungen und Löhne eingefordert werden. Willkürlich gewährte Vorteile für Einzelne sorgten oft nur für geringe Solidarisierung untereinander. Aus Kahlhammers Sicht hat Sozialdumping in der Landwirtschaft System.

Seine Mitarbeiter seien sein Kapital, sagt Gurkenbauer Ableidinger. "Sie bleiben nur, wenn sie sich wohlfühlen."
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Arbeitgeber sprechen von Einzelfällen, deretwegen eine ganze Branche durch den Fleischwolf getrieben werde. "Ich glaube nicht an eine heile Welt, ich bin ja nicht weltfremd. Aber letztlich sind es nur wenige Betriebe, die aufgrund ihrer finanziellen Schieflage versuchen, illegal zu sparen. Das ist scharf zu verurteilen", sagt Josef Peck, Obmann des Verbands der Obst- und Gemüsebauern. Landwirtschaft sei Knochenarbeit, und Bauern seien keine Millionäre.

Tonnen an Gemüse entsorgt

Doch ihr Produkt sei dem Handel etwas wert, schließlich wolle dieser keine ausländischen Gurken im Regal. "Wir können angemessene Preise verlangen. Der Markt zwingt keinen zur Ausbeutung."

Doch seine Spielregeln sind komplex. Ein Landwirt erzählt von Tonnen an Gemüse, das er mitten in der Hochsaison entsorgte. Eine Lebensmittelkette schickte es retour: Die neben seiner Ware zeitgleich feilgebotene günstigere Konkurrenz aus Nordafrika verkaufte sich besser.

Kürbisse fürs Gemüskisterl. Halte er sich als Direktvermarkter bei den Löhnen nicht an die Spielregeln, spiele er mit seiner Existenz, sagt Biobauer Gerhard Zoubek.
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Andere Bauern sehen sich an der Höchstarbeitszeit scheitern: Spargel oder Erdbeeren ließen sich nicht in Zehn-Stunden-Tagen ernten – dafür sei die Saison zu kurz. Zumal auch kaum jemand für wenige Wochen nach Österreich komme, um dann nur acht Stunden zu arbeiten. Wer sich den Job antue, versuche, in kurzer Zeit das Möglichste aus ihm herauszuholen. Saisonbetriebe meldeten daher gern 40 Stunden an und zahlten Überstunden schwarz.

Lebensmittel ohne Wert

Gerhard Zoubek, Gründer von Adamah, baut im Marchfeld auf 140 Hektar Biogemüse an und liefert es in Kistln an private Haushalte. Anders als Kollegen sitzt er nicht im Glashaus. Sein Hof liegt eingebettet zwischen Äckern. Zwerghühner gackern, der Garten steht noch in voller Blüte. Zoubek nennt Probleme der Branche systemimmanent. Mitschuld daran habe fehlende Wertschätzung für Lebensmittel.

"Irgendeiner zahlt immer drauf, entweder Tiere oder der Mensch." Er selbst halte sich an Kollektivverträge. Alles andere wäre moralisch und finanziell unvertretbar. "Wir sind als Direktvermarkter ständig im Kontakt mit Kunden. Wir würden unsere Existenz aufs Spiel setzen."

Für Gerhard Zoubek, Gründer des Biohofs Adamah, haben zu günstige Lebensmittel einen hohen Preis: "Irgendeiner zahlt immer drauf, entweder Tiere oder der Mensch."
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Adamah zählt rund 40 Arbeiter in der Landwirtschaft: Slowaken, Rumänen und Österreicher. Tibor etwa, der seit 13 Jahren unter der Woche nach Glinzendorf pendelt. "Die Arbeit ist schwer, aber besser bezahlt als in der Slowakei." Oder Beate, die ihren Job in der Privatwirtschaft aufgab und seither Kräuter zieht. "Ich verdiene weniger als früher, aber ich wühle gern in der Erde und presse Öl. Ich sehe einen Sinn in dem, was ich hier tue, und kann davon leben."

Oder Hans, der als Vorarbeiter und Nebenerwerbslandwirt beide Seiten der Medaille kennt. "Ich will als Angestellter fair bezahlt werden. Zugleich habe ich Angst, es irgendwann nicht mehr zu schaffen, meine eigenen Mitarbeiter vernünftig zu entlohnen." Kleine Gärtnereien am Leben zu erhalten werde zusehends schwierig.

Beate Wohlkönig wechselte von der Privatwirtschaft in den Kräutergarten. "Ich verdiene weniger als früher, aber ich sehe einen Sinn in dem, was ich tue."

Walter Medasch, Generalsekretär der Landarbeiterkammer, will über die Zahl der weißen Schafe in Relation zu jener der schwarzen rund um Österreichs Felder nicht spekulieren: Es brauche weniger Aktionismus – das Problem gehöre an der Wurzel gepackt. Medasch plädiert für eine zentrale Stelle, die Arbeitskräfte und Unterkünfte vermittelt. Diese soll Landarbeiter schulen und ganzjährig einsetzbar machen. Das würde die Abhängigkeit der Erntehelfer von einzelnen Betrieben reduzieren. Und es mache den Job für Österreicher interessant, denen sechs Wochen Arbeit auf dem Spargelacker keine Perspektiven bietet.

Kontrolle im Vorfeld

Medasch verlangt zudem Informationen über Anträge von Arbeitern aus Drittstaaten. "Wir kennen die schwarzen Schafe, und wir wissen um die Unterkünfte." Betriebe, die sich nicht an Regeln halten, werde damit der Weg zu Arbeitskräften im Vorfeld versperrt.

Die Regierung zeigt für die Belange der Landarbeiter allerdings wenig Interesse. Die SPÖ brachte infolge der jüngsten Missstände eine Anfrage bei den Ministerien für Landwirtschaft und Arbeit ein. Ihre Fragen rund um bisherige Kontrollen, Strafen und künftige Maßnahmen, um Ausbeutung zu verhindern, blieben weitgehend unbeantwortet. Man erklärte sich für nicht zuständig.

Petersilie für den kommenden Winter. Die Politik zeigte für die Belange der Landarbeiter bisher wenig Interesse.

Was die geplanten Corona-Screening-Tests unter Erntehelfern betrifft, stößt die Politik vielerorts auf Misstrauen. Einmal vor sechs Wochen bot man sie seinen Mitarbeitern auf freiwilliger Basis an, sagt Gemüselieferant Merschl. Die Hälfte lehnte ab. Beim Gärtner Ableidinger wollte sich kein einziger Arbeiter testen lassen. (Verena Kainrath, 26.9.2020)