Said (ganz rechts) ist mit seinen Freunden ein paar Kilometer zurück ins alte Lager Moria gewandert, um "Erinnerungen hochkommen zu lassen". Er lebt mit 9.400 Geflüchteten im neuen Camp Kara Tepe.

Foto: Adelheid Wölfl

Vom Strand her ist Kinderlachen zu hören, ein paar planschen mit Schwimmreifen im Wasser. Männer waschen sich im Salzwasser die Haare, einer rasiert sich mit dem Spiegel in der Hand. Im neuen Camp Kara Tepe auf Lesbos, in das jene Menschen gebracht wurden, die nach dem Brand im Lager Moria am 8. September obdachlos geworden waren, gibt es noch keine Duschen. Deshalb baden Männer und Kinder im Meer. Die Frauen wagen dies erst, wenn es dunkel wird.

Nasanin und Mohammed Naser leben nun mit ihrem sieben Monate alten Sohn Mazi in Kara Tepe. Die junge Familie aus Kabul ist aus dem Container im Camp Moria geflüchtet, als das Feuer am 8. September ausbrach. Vater Mohammed, 32, versuchte später noch Kleidung und Nahrung für das Baby aus dem brennenden Lager zu retten. "Doch es war zu gefährlich, extrem heiß, und die Polizei versprühte Tränengas", erzählt er. In den darauffolgenden Tagen campte die Familie in den Olivenhainen. Dort sind noch überall die Decken und Plastikflaschen zu sehen.

Keine Duschen in Kara Tepe

Nasanin und Mohammed und der kleine Mazi teilen sich jetzt ein Zelt mit der vierköpfigen Nachbarfamilie im neuen Camp Kara Tepe. In Moria sei es ihnen besser gegangen, denn dort waren sie unter den wenigen, die einen eigenen Container und Duschen hatten, meinen die beiden. "Nun müssen wir Wasser holen gehen, und wir bekommen weniger Essen als zuvor", erzählen sie. Für manche ist das neue Camp Kara Tepe eine Verschlechterung, für viele, die vorher aber nicht einmal ein ordentliches Zelt hatten, ist es nun besser geworden. Es kommt darauf an, wen man fragt.

Das riesige Zeltlager, das direkt an der Ostküste der Insel in den vergangenen Woche rasch aufgebaut wurde, ist eingezäunt. Innerhalb des Lagers befinden sich zwei abgeschlossene Bereiche, einer ist etwa für jene 250 Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden – sie sind bislang alle asymptomatisch –, ein anderer Bereich ist für junge alleinreisende Männer reserviert, sie haben über die Nacht Ausgangssperre. Denn schon im abgebrannten Camp Moria waren manche dieser jungen Männer dafür bekannt gewesen, dass sie in der Nacht andere mit Messern bedrohten, Frauen belästigten oder Drogen nahmen.

Viel sicherer als in Moria

"Es ist hier in Kara Tepe viel sicherer als im Camp Moria", meint Husein Kaltun, ein 26-jähriger Somalier, der zu jenen 9.400 Leuten gehört, die nun hier leben. Insgesamt waren zum Zeitpunkt des Brandes etwa 11.000 Leute in Moria, einige hundert wurden in anderen Zentren untergebracht, etwa alleinreisende Frauen mit Kindern. Kaltun meint, dass die Sicherheitssituation hier auch deshalb besser sei, weil es viel mehr Polizei gebe.

Tatsächlich sind rund um das Lager mit seinen 1.100 großen weißen Zelten, die vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geliefert wurden, dunkelblaue Busse zu sehen, in denen junge Polizisten sitzen. Vor dem Camp steht ein riesiger roter Feuerwehrtank – man will nicht noch einmal zu spät kommen, falls wieder jemand beginnt, Zelte anzuzünden.

Erneuter Asylantrag in Deutschland

Die Diskussionen in Österreich um die Aufnahme von Flüchtlingen spielen weder für die Griechen auf Lesbos noch für die Leute im Camp Kara Tepe eine Rolle. Manche, die hier leben, haben gehört, dass Deutschland 1.500 Personen aufnehmen will, und sie hoffen, unter diesen 1.500 zu sein. Viele wollen ohnehin nach "Germany". Und manche machen sich auch auf den Weg, sobald sie einen Personalausweis bekommen haben. In Griechenland wurden in den vergangenen Monaten tausende Menschen als Flüchtlinge anerkannt. Sie dürfen zwar wie Touristen in andere EU-Staaten reisen, doch dort nicht arbeiten – und müssen nach 90 Tagen nach Griechenland zurück. Dennoch fliegen viele nach Deutschland und suchen dort neuerlich um Asyl an.

So will es auch Herr Kaltun machen, der in Somalia unter Druck gesetzt wurde, für eine terroristische Miliz zu arbeiten – und deshalb geflüchtet ist. "Was soll ich in Griechenland?", meint der schlanke Mann. "Hier gibt es keine Jobs und keine Zukunft." Er wartet nur mehr darauf, den Personalausweis zu bekommen, und dann will er nach Athen und dort ins Flugzeug steigen.

Aufräumarbeiten im abgebrannten Camp

Vor dem Eingang des Camps kontrollieren Beamte die Säcke, die die Leute vom Einkaufen mitbringen, mit Metalldetektoren. Fragt man die hier Wartenden nach dem Brand im Lager Moria, so erzählen sie, dass junge Afghanen das Lager an mehreren Stellen gleichzeitig angezündet hätten.

Die Hügel hinauf, ein paar Kilometer weiter im Landesinneren, sind neben ausgebrannten Containern und geschmolzenen Plastiktoiletten verkohlte Baumstämme zu sehen, auf denen die Menschen früher ihre Wäsche zum Trocknen aufgehängt haben. Ein paar Arbeiter versuchen die Metallgitter und Containerteile zu entsorgen. Es stinkt fürchterlich, Fliegen surren knapp über den Müllbergen. Ein oranges Plastikzelt fliegt, von einem Windstoß beflügelt, ein paar Meter durch die Luft.

Ein Wunder, dass keiner verletzt wurde

Ein paar Flüchtlinge streifen durchs abgebrannte Lager und suchen nach Überresten ihrer Habseligkeiten. Angesichts der tausenden abgebrannten Hütten ist es ein Wunder, dass niemand durch das Feuer verletzt wurde und keine Massenpanik ausbrach. Bei früheren Feuern in Moria waren Menschen gestorben.

In einer kleinen, nicht verbrannten Hütte sitzen Said H. und "seine besten Freunde", ein paar Tadschiken aus Herat. "Wir sind hier, weil wir die Erinnerungen an Moria hochkommen lassen wollen", erklärt der 17-jährige. Tatsächlich war Moria mit seinen Favela-artigen Häuschen, den Zäunen aus Büschen, den Brotbacköfen, den kleinen Geschäften, dem geschäftigen Treiben und dem Spielen der Kinder ein Kosmos für sich gewesen.

"Moria war besser als Kara Tepe"

Der Brand hat das umstrittene Lager, in dem Kleinkinder früher zwischen Müll und Schlamm herumliefen, zu einem grau-schwarzen Flecken Land inmitten der Olivenhaine gemacht. Eine ganze Welt, und mag sie auch noch so elend gewesen sein, ist für Said und seine Freunde, die hier ein Jahr lang lebten, über Nacht plötzlich verschwunden. Er kommt deshalb einmal pro Woche hier herauf, um das Früher und das Heute zu besprechen. "Moria war besser als Kara Tepe", meint er, "denn in Moria gab es mehr Waschgelegenheiten."

Said hat bereits Asyl erhalten – so wie 1.000 andere Flüchtlinge, die sich noch auf Lesbos befinden. Doch weil die griechischen Behörden nach wie vor Quarantäne verfügt haben und aus Angst vor Anreizen für neuerliche Brandstiftungen zurzeit die Leute nicht ans Festland bringen, muss er noch warten.

Neid auf jene, die Asyl bekommen

Said erzählt, dass jene jungen Afghanen, die das Lager angezündet hatten, sauer gewesen seien, weil sie kein Asyl und auch keinen Personalausweis von den griechischen Behörden bekommen hätten. In den letzten Monaten war es in Moria bereits vermehrt zu Spannungen und Neid gekommen. Denn jene, die in ihre Heimatländer rückgeführt werden sollen, verstanden nicht, weshalb andere gleichzeitig internationalen Schutz bekamen. Die alte Ruhelosigkeit und Ungewissheit sind mit den Menschen in das neue Lager unten am Meer übersiedelt.

Die meisten im neuen Camp Kara Tepe sind noch dabei, sich neu einzurichten. Es fehlt an Paletten, damit man nicht auf dem Schotterboden schlafen muss und die Nässe im Winter nicht vom Boden aufsteigt. Der UNHCR hat mittlerweile Bodenmatten, Solarlampen und Hygienepakete ausgeteilt. Überall im Lager stehen Toiletten-Boxen, Lastwagen fahren zwischen den Zeltreihen durch und sammeln die Plastiksäcke mit dem Müll ein.

Zahlreiche Hilfsorganisationen vor Ort

Das Lager steht unter der Verwaltung des griechischen Migrationsministeriums. Trotzdem sind zahlreiche internationale Hilfsorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation, die Internationale Organisation für Migration (IOM), das Kinderhilfswerk Unicef, Eurorelief, Médecins du Monde, das griechische, das Internationale und das deutsche Rote Kreuz, die Caritas und viele andere vor Ort. Es gibt keine unmittelbare Notlage mehr wie nach dem Feuer, wenngleich sich Geflüchtete oft über mangelndes Essen beschweren.

Insgesamt ist es friedlich hier am Strand, die Menschen sind froh, dass sie nicht mehr auf der Straße ausharren müssen wie in den Tagen nach dem Brand, wo sie weder ein Zelt über dem Kopf hatten noch eine Möglichkeit, aufs Klo zu gehen. Viele hatten in dieser Woche auch nicht ausreichend zu essen. Marco Sandore von Ärzte ohne Grenzen erzählt, dass in diesen Tagen Kinder behandelt werden mussten, die dehydriert waren.

Lokale Behörden gegen neues Camp

Nun stehen im neuen Camp große Wassertankwagen. Wasserleitungen sind noch zu verlegen. Das könnte schwierig werden. Die Hauptstadt der Insel Mytilini ist zwar nur einige Kilometer entfernt, doch in der Stadt haben viele Bürger Angst, dass der Wasserverbrauch im Lager so groß sein könnte, dass die Bürger der Stadt nicht mehr ausreichend zur Verfügung haben könnten. Die lokalen Behörden und Politiker sind ohnehin dagegen, dass auf Lesbos ein neues Lager wie Kara Tepe entsteht. Sie wollen, dass die Migranten direkt aufs Festland gebracht werden.

In den nächsten Monaten werden wohl auch viele Migranten und Flüchtlinge mit der Fähre nach Athen gebracht werden, doch es soll weiterhin auf Lesbos ein großes Aufnahmezentrum geben, das in den kommenden Monaten auch mit EU-Hilfe gebaut werden soll. Das neue Lager soll allerdings geschlossen sein. Das Lager Moria war offen – alle konnten ein- und ausgehen. Und auch hier in Kara Tepe können jeweils 1.000 Menschen nach draußen. Jeder bekommt eine kleine blaue Plastikkarte mit einer Nummer ausgehändigt, die er bei der Rückkehr wieder abgeben muss.

Zu Fuß nach Mitteleuropa

Die Familie Hajdari ist gerade auf dem Rückweg vom Lidl, der ein paar hundert Meter entfernt liegt, ins Camp. Die Hajdaris haben fünf Kinder, die um den Einkaufswagen herumlaufen. Sie haben bereits Asyl erhalten und warten nun, dass sie nach Athen fahren können. Weil das Essen für die Kinder nicht ausreicht, lässt sich Herr Hajdari aus Kabul Geld schicken, mit dem er dann beim Lidl auf Lesbos einkaufen gehen kann. Die Hajdaris sind zuversichtlich. "Wir bleiben sicherlich nicht in Griechenland, wir werden weiter nach Mitteleuropa gehen, und wenn es sein muss, zu Fuß mit den fünf Kindern", meint Vater Fahim. (Adelheid Wölfl aus Mytilini, 28.9.2020)