Wilhelm Genazino (1943-2018), bundesdeutscher Anwalt der Mühseligen und mit Neurosen Beladenen: 2004 zeichnete man ihn mit dem Georg-Bücher-Preis aus.

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Seine Helden waren zumeist Unbeachtete. Sie glichen Flaneuren in der vom Wohlleben hüftschwer gewordenen Bundesrepublik: bunte Vögel, wohlstandsgrau verkleidet. Dabei konnten Wilhelm Genazinos (1943–2018) Romanfiguren ihre Verwunderung über die Absurditäten des Alltagslebens in Büchern wie "Mittelmäßiges Heimweh" oder "Das Glück in glücksfernen Zeiten" nur schwer verbergen.

Genazino selbst unterschied sich von seinen Helden lediglich in Nuancen. Wie die neue Ausgabe des "Schreibhefts" mit bisher unbekannten Gesprächsmitschriften unter Beweis stellt, sprach dieser Anwalt aller mittelschwer Beladenen ein makelloses, wohltuend altmodisches Nachkriegsdeutsch.

Als geduldige Beobachter standen Genazinos Alter Egos stets am Rand. Als Lauschangreifer, quasi als Spießer in Reserve. Was sie in der westdeutschen Angestelltenwelt beobachteten, übersetzten sie in allerhand Reflexionen. Aus der Pedanterie seiner Abschweifungen gewann Genazino Medizin gegen Melancholie. Nicht mittun, Abstand halten, jede Torheit unter Vorbehalt stellen: Bis an die Zähne mit Skepsis bewaffnet, wahrte der bis zu seinem Tod in Frankfurt ansässige Georg-Büchner-Preisträger von 2004 stets die Höflichkeit der (kleinen) Form. In Wahrheit waren Genazinos lavierende Helden die Enkelkinder von Robert Walsers sorgsam verelendeten Mansardenbewohnern.

Vor allem aber musste man dem leibhaftigen Genazino irgendwann zugehört haben, als Vorleser, als aufmerksamem Gesprächspartner. Im Schreibheft durchmisst der Autor jetzt unter dem Dossiertitel "Der Weg ins Offene" federleichten Schrittes seine Mannheimer Kindheit: die Jahre als gescheiterter Schüler, der ohne böses Blut kleine Arbeiten verrichtete. Der als junger Reporter das Staunen erlernte. Der erste Erzählprosa schrieb und schließlich, in den unruhigen 1960ern, in der Frankfurter Satirezeitschrift "Pardon" als Redakteur anheuerte.

Im Keller Zeitung lesen

Man könnte meinen, das Angestelltenkind aus Mannheim hätte sich selbst beim Flüggewerden zugeschaut. Die Elternteile plagte – aus jeweils unterschiedlichen Gründen – eine depressive Verstimmung. Der Vater blieb als technischer Konstrukteur ohne Patent und ging, stumm vor Scham, in den Keller Zeitung lesen. Die Mutter hielt zwar "auf der Ebene einer natürlichen körperlichen Symbiose" den Laden zusammen. Ihr stumm ertragenes Unglück kanalisierte sie, indem sie amateurhafte Schreibversuche unternahm, ohne doch jemals selbst ein Buch gelesen zu haben.

Man sieht förmlich vor sich, wie Genazino noch ein halbes Jahrhundert später verständnislos den Kopf schüttelt. Das seelisch allein gelassene Kind spricht von "Introjekten". Die Mutter blieb für ihn das "abwesende Objekt". Wie einer seiner mittelmäßigen Helden versucht der Autor, seine Abwehr des elterlichen Leids in eine Form von Stellvertretung zu übersetzen. Elternleid ist halb geteiltes Leid. Der kleine Wilhelm wird folgerichtig zum praktizierenden Melancholiker. Der Wirtschaftswunder-Frohsinn aber verdient es, als ideologisches Lügenprodukt enttarnt zu werden.

Zum Zaudern verurteilt

Genazino-Figuren sind nicht ohne Grund zum Zaudern verurteilt. Sie wollen unter keinen Umständen so werden wie ihre Spießer-Eltern. Deren untröstliches Erbe hindert sie daran, unbelastet in die Welt hinauszugehen. Die liegt ihnen zu Füßen. Prompt drückt sie der Schuh.

Eine Erlösung durch Religion stellt – trotz eingestandener Hinneigung zu ihr – für Genazino, den Melancholiker in zweiter Generation, keine überzeugende Option dar. Hoffnung? Ist, zufolge einem Kafka-Diktum, vielleicht sogar im Übermaß vorhanden. Sie besagt bloß nichts, so Genazino im Gespräch mit Anja Hirsch: "Das trifft nicht dieses schwarze Loch, das das eigene Ich ist und aus dem man immer wieder gerade herausguckt."

Die Kulissen der Bundesrepublik erscheinen in neuem Licht. Es strahlt blau, so wie die Fernseher, von denen sich die Kriegsgeneration in einen seichten Schlaf des Vergessens versetzen ließ. Wilhelm Genazinos Poetik war und ist eine der Widersetzlichkeit, der höflichen Renitenz. Als "Kernpunkt der Selbstverheimlichung" wird von ihm ein Gefühl der Scham diagnostiziert.

"Die Liebe zur Einfalt" lautet der Titel eines Genazino-Buchs. Ein möglicher Entlastungstrick, den der Autor für alle Paniker in petto hatte: Das Wurstbrot, das man verspeist, beim Verzehr geduldig anschauen! Irgendwann erwidert das Wurstbrot den beharrlichen Blick. Anja Hirsch nennt das in ihrer Nachschrift zu diesem ingeniösen Dossier: "Die Kunst, sich wundern zu können". (Ronald Pohl, 28.9.2020)