Autorin Swetlana Alexijewitsch (72) ist "stolz auf die Belarussen": "Ich liebe mein Volk!"

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Neben Bildern friedlicher Großdemonstrationen und brutaler Polizeiübergriffe hat zuletzt auch eine Szene in einer Minsker Wohnung für Schlagzeilen aus Belarus gesorgt. Nachdem die Literaturnobelpreisträgerin von 2015, Swetlana Alexijewitsch, am 9. September davon geschrieben hatte, dass unbekannte Personen an der Tür klingeln würden, eilten europäische Botschafter zu ihr. Sie veröffentlichten Gruppenfotos mit der Literatin und sandten eine klare Botschaft an das Regime von Alexander Lukaschenko.

Der "spontane Solidaritätsbesuch" galt freilich nicht nur dem moralischen Gewissen der Nation: Nach der Verschleppung der populären Aktivistin (und Flötistin) Marija Kolesnikowa und der Festnahme des Juristen Maxim Snak war Alexijewitsch das letzte Präsidiumsmitglied des oppositionellen Koordinationsrats, das sich noch in Belarus sowie in Freiheit befand. Mit Sergej Dylewski ist kürzlich aber ein Präsidiumsmitglied des Koordinationsrats aus Verwaltungsarrest entlassen worden. Somit sind derzeit zwei Präsidiumsmitglieder, Alexijewitsch und Dylewski, in Weißrussland und auf freiem Fuß.

Vor einem Treffen von Russlands Präsident Wladimir Putin und seinem weißrussischen Gegenüber Lukaschenko hatte die europäische Diplomatie die Befürchtung, dass auch die 72-jährige Literatin festgenommen werden könnte. Einige Tage lang hielten Botschaftsvertreter rund um die Uhr Wache in ihrer Wohnung. Erst als die größte Gefahr gebannt schien, wurde diese ungewöhnliche diplomatische Aktion wieder beendet.

Große Fußstapfen

Mit ihrer Tätigkeit im Koordinationsrat, der zu einem friedlichen Machtwechsel in Belarus beitragen möchte, trat Alexijewitsch nun auch politisch in die Fußstapfen ihrer großen Mentoren Ales Adamowitsch (1927–1994) und Wassil Bykau (1924–2003). Diese hatten seinerzeit nicht nur den Ankauf eines Aufnahmegeräts finanziert, ohne das Alexijewitschs zentrales Frühwerk über sowjetische Frauen im Zweiten Weltkrieg, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, nicht hätte entstehen können. Die beiden Autoren prägten aber auch die für Alexijewitsch relevante belarussische Literaturtradition, die sich vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen des Weltkriegs in einer dokumentarisch orientierten Prosa mit dem einfachen Menschen beschäftigt.

Adamowitsch schrieb über Partisanen, initiierte aber auch das epochale Blockadebuch, das das Leid der Zivilbevölkerung im von den Deutschen belagerten Leningrad dokumentierte. Bykau verarbeitete seine Erfahrungen in existenzialistischen Erzählungen. Texte, die er etwa auf Basis seiner Erlebnisse als Rotarmist in der Steiermark schrieb, haben wenig mit dem offiziösen Heldenkult zu tun. Gegen Ende ihres Lebens engagierten sich beide aber auch politisch: "Ein Václav Havel wäre nötig gewesen. Wenn Adamowitsch nicht so früh gestorben wäre, hätte er es sein können", kommentierte Alexijewitsch vor einigen Jahren die Geschichte Weißrusslands, das im Unterschied zu Russland schon in den frühen 1990ern auf einen autoritären Kurs zurückgeschwenkt war.

Bykau unterstützte bei den Präsidentschaftswahlen 1994 den Vorsitzenden der belarussischen Volksfront, Sjanon Pasnjak, gewählt wurde damals Lukaschenko. "Das Volk stimmte für einen harten, energischen und pragmatischen Direktor einer Sowchose, dessen Ideen so einfach wie das Muhen einer Kuh sind und dabei durchaus verständlich", erklärte der Literat den Erfolg des künftigen Langzeitpräsidenten.

Gehör bei den Menschen

Zwei Jahre später war Bykau maßgeblich in Proteste gegen von Lukaschenko forcierte Integrationsbestrebungen mit Russland involviert. Wie viele Vertreter der Opposition emigrierte er kurze Zeit später aus Angst vor Repressionen in den Westen. Erst wenige Wochen vor seinem Tod 2003 kehrte er sterbenskrank nach Minsk zurück. Das Begräbnis des populären Dichters avancierte zu einer der größten Oppositionskundgebungen, die die Massendemonstrationen von 2020 nun freilich in den Schatten gestellt haben.

Dass die Nobelpreisträgerin in der aktuellen Konfrontation mit dem Lukaschenko-Regime nun eine wichtige symbolische Rolle spielt, kommt nicht unerwartet. Gleichzeitig dürfte auch sie selbst vom rasanten Stimmungswandel überrascht worden sein. Denn jahrelang hatte sie die Chancen auf demokratische Veränderungen in Belarus als gering eingeschätzt. Lukaschenko habe sich als stärker erwiesen, er spreche die gleiche Sprache wie das Volk, klagte sie 2016 in einem Interview. "Wir sind hingegen wie Außerirdische, die Monologe über Freiheit halten", sagte die Autorin, die 2013 nach langen Jahren im Ausland nach Minsk zurückgekehrt war und sich von Lukaschenko auch nicht zwangsexilieren lassen will.

Die als verstaubt geglaubten Diskurse der weißrussischen Intelligenzija fanden im Corona-Krisenjahr 2020 jedoch insbesondere bei jungen Menschen Gehör und wurden in sozialen Netzwerken verstärkt. "Ich möchte meinem Volk sagen, dass ich es liebe. Ich bin stolz auf die Belarussen", kommentierte Alexijewitsch die nunmehrigen Massendemonstrationen. Auch ein Lebenstraum könnte noch zu Lebzeiten in Erfüllung gehen: dass das zentrale Thema ihrer preisgekrönten Literatur, der vom Sowjetkommunismus geprägte und deformierte "rote Mensch", der nichts mit seiner Freiheit anfangen kann, in ihrer Heimat als politisches Phänomen in den Hintergrund tritt. (Herwig G. Höller, 28.9.2020)