In den nächsten Tagen dürfte die weltweite Zahl der Todesopfer durch die Corona Pandemie eine Million überschreiten. Nach einer Periode der scheinbar erfolgreichen Beruhigung melden Großbritannien, Frankreich, Spanien und vor allem Israel wieder Rekordzahlen an täglichen Infektionen. Im Gegensatz zur ersten Phase der Epidemie handelt es sich aber jetzt in den erwähnten Staaten um das Versagen der Regierungen und erst recht der jeweiligen Führungsfiguren.

Israel, noch im Frühjahr international gerühmt wegen der konsequenten Bekämpfung des Coronavirus, liefert ein erschreckendes Beispiel für ein ausschließlich von persönlichen und machtpolitischen Interessen diktiertes Hasardspiel bei der Lockerung der Schutzmaßnahmen. Die täglichen Infektionszahlen waren am Wochenende zwölfmal so hoch wie in Österreich und (in Bezug auf die Bevölkerung) die höchsten weltweit!

Trotz der hohen Ansteckungszahlen lehnt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Einschränkungen im religiösen Leben ab.
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Das Virus verbreitet sich rasant in der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde (sie stellt 15 Prozent der Bevölkerung, und 50 Prozent von den Strenggläubigen leben unter der Armutsgrenze). Trotzdem lehnte der in mehreren Korruptionsprozessen verstrickte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Einschränkungen im religiösen Leben, wie die von 60 Prozent der Israelis unterstützte Schließung der Synagogen, unter dem Druck der zwei religiösen Parteien in seiner Regierung ab.

Erst ab Freitag wurde der zweite Lockdown auch für "Gebete und Demonstrationen" verschärft. Allerdings hat man die Synagogen für den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur (Sonntag bis Montag) doch geöffnet. Die Gebete dort sind "ein desaströses Ansteckungsereignis", warnte der Epidemiologe Hagai Levine, Corona-Berater der Regierung. Nur 27 Prozent der Israelis vertrauen Netanjahu noch.


Chaotisches Krisenmanagement

Auch in Frankreich wächst der Zorn der Bevölkerung wegen des chaotischen Krisenmanagements der Regierung. Nach 31.000 Toten zählte man zuletzt 17.000 tägliche Infektionen. Ärzte befürchten wieder eine Notlage in den Krankenhäusern. Während Präsident Macron mit Blitzbesuchen im Libanon und Irak, in dieser Woche in Lettland und Litauen eine höchst aktive Außenpolitik betreibt, protestieren die Bürgermeisterinnen von Marseille und Paris gegen die ohne Information unilateral beschlossenen Restaurantschließungen beziehungsweise Einschränkungen der Gastronomie. Infolge des zentralistischen Regierungsstils, der ohne Konsultation der lokalen Entscheidungsträger erfolgt, dürfte aus der Corona-Krise, wie zur Zeit der "Gelbwesten"-Proteste, eine Vertrauenskrise entstehen.

In Tschechien wird der mit "Corona-Erfolgen" prahlende Premier Andrei Babiš scharf kritisiert, weil er aus Rücksicht auf die anstehenden Regionalwahlen trotz der schnellen Ausbreitung des Virus strenge Schutzmaßnahmen vermeiden wollte. In London stiftet die Johnson-Regierung trotz 42.000 Corona-Toten durch ständig wechselnde Bestimmungen noch immer Verwirrung. Bei der letzten Umfrage liegt die Labour Partei zum ersten Mal seit dem Amtsantritt von Boris Johnson vor den Konservativen.

Von den europäischen Spitzenpolitikern findet bisher, so scheint es, nur Bundeskanzlerin Angela Merkel das rechte Maß an bürgernahem Krisenmanagement. (Paul Lendvai, 29.9.2020)