Die verurteilte Mörderin Sally Poppy (Marie-Luise Stockinger, re.) tritt erhobenen Hauptes vor das Geschworenengericht und dessen Vorsitzende (Barbara Petritsch).

Burgtheater / APA / Marcella Ruiz Cruz

Gerichtssäle um 1760 waren Männern vorbehalten. Frauen blieben bei Entscheidungsfindungen ausgeschlossen, Kausalzusammenhang: "Terror der Eierstöcke". Die "gesamte animalische Ökonomie einer Frau", so drückt es in Lucy Kirkwoods Stück Das Himmelszelt ein Arzt mit riesiger Gynäkologenzange (Dietmar König) ruhig und sachlich aus, schalte Intellekt und Vernunft aus. Wenn es aber darum geht, die mögliche Schwangerschaft einer zum Tode Verurteilten festzustellen (was dieser dem unschuldigen Ungeborenen wegen das Leben retten könnte), dann werden dafür – große Ausnahme! – zwölf Frauen als Geschworene zugelassen.

Diese aus dem tiefsten Mittelalter herrührende Fußnote der Rechtsgeschichte schnappte sich Drehbuch- und Theaterautorin Kirkwood für ihr im Jänner am National Theatre in London uraufgeführtes Stück: Zwölf Frauen sollen die vorgebliche Schwangerschaft einer bereits schuldig gesprochenen Mörderin beurteilen, um sie eventuell vor dem Strang zu retten.

Edutainment

Der Stoff taugt hervorragend für schauderhaft-faszinierende Terra X-Dokus: Mentalitätsgeschichte via Einzelschicksal dramatisch erzählt. Auf diesen Spuren wandelt auch das Theater. Tina Lanik zimmert in ihrer deutschsprachigen Erstaufführung am Burgtheater einen sonderbaren Kostümschinken auf Edutainment-Basis. Mit dem Gerichtsfall der verurteilten Mörderin Sally Poppy (Marie-Luise Stockinger) führt die Regisseurin das Rechtswesen der Zeit an sich vor, aber auch die historisch bedingten Meinungs- und Vorurteilscluster der Geschworenen: kinderreiche, glücklose Landfrauen des Puritanismus, welche aus Angst und Frömmigkeit oder einfach nur aus Zorn und Eifersucht handeln.

Damit der Abend nicht zur bleiernen Nacherzählung verkommt (was er streckenweise ist) und das Publikum nicht in Trauermienen erstarrt (so arg alles), inszeniert Lanik mit skurril-komischer Schlagseite und setzt auf Gruseloptik: düstere Lichtgebung, unheilvolle Musik von Jörg Gollasch. In einer tiefschwarzen Welt dreht sich ganz vorne an der Rampe ein holzgetäfeltes Haus mit hohen Fenstern, in dem die Frauen Gerichtstag halten – nachdem sie aus der üblichen Hausarbeit gerissen wurden (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier).

Richtung Klamottenkiste

Die Freude über die Teilhabe ist mäßig, klar: wie Doppelbelastung heute. Die eine müsste eigentlich dringend ein Lauchfeld abernten, die andere hätte großen Waschtag, und fast alle eint die Betreuungspflicht, ein Dutzend Kinder sind keine Seltenheit.Ihr raunzerischer Tenor gibt den Figuren Auftrieb. Sie werden in dieser Enklave der Fremdbeherrschung zu Protagonisten, selbst wenn ihr Leben und auch ihr Urteil letztlich von Männern bestimmt bleiben werden. Hier stehen und sitzen sie in buntscheckigen Miederkleidern, und gemeinsam mit dem seltsam heiteren Tonfall birgt das auch Risiken: Der Abend manövriert dann in die Nähe der Klamottenkiste.

Die rachsüchtige Vorsitzende (Barbara Petritsch) macht mit Pagenkopf und dicker Sonnenbrille auf Anna Wintour, die unter Wallungen Leidende (Dunja Sowinetz) kommt mit 1980er-Föhnfrisur an Farrah Fawcett heran. Die Gegenwart blitzt in dieses historische Setting unvermittelt hinein: Mit den Kindern spielt man etwa Flugzeug. Und auch die Verurteilte, die junge unerzogene Sally Poppy mit harter Kindheit, die vom Arbeitgeber Vergewaltigte, die Abhängige und Getretene, die für ihre einzige Liebe vor keinem Opfer zurückschreckt: Schauspielerin Marie-Luise Stockinger reißt sie in einem kreatürlich-defätistischen Kraftakt ganz in die Gegenwart herüber. Eine Wucht!

Ghotto-Hoodie

Sie zieht ihren schwarzen Ghetto-Hoodie übers Gesicht und trägt mit Stolz die Unterhose – nicht. Vertrauen in die Sache hegt Sally allein schon aus Instinkt nicht und lässt das auch ihrer einzigen Fürsprecherin, der Hebamme Elizabeth Luke (Sophie von Kessel), spüren. Von Kessel, neu im Ensemble und übrigens Lebensgefährtin von Burgtheaterdirektor Martin Kušej, ist der wilden Sally ein würdiges Gegenüber in diesem Hetzspiel unter der Obhut des religiösen Patriarchats.

Im Umkreis erweiterter Gerichtsdramen von beispielsweise Arthur Millers Hexenjagd, Michael Hanekes Das weiße Band oder Lars von Triers Dogville nimmt Das Himmelszelt einen konventionellen Platz ein. Und trotz aller antibetulicher Bemühungen der Regie und trotz der Verweigerung von üblichen Opferbildern steht am Ende ein hochgejazztes Climax-Drama, dem man keinen Glauben schenken mag. (Margarete Affenzeller, 28.9.2020)