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Am Montag fand der informelle Auftakt der Brexit-Gespräche statt, am Dienstag beginnt in Brüssel die neunte und vorläufig letzte Verhandlungsrunde. Anschließend geht es bis Mitte Oktober in den "Tunnel", oder nach neuestem Brüsseler Jargon ins "U-Boot", um jegliche Weitergabe von Informationen an die Medien zu verhindern.

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Der Besuch von Kabinettsbürominister Michael Gove bereits am Montag in Brüssel symbolisiert die Bedeutung, die London dem Fortgang der Verhandlungen beimisst.

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Drei Monate vor Ablauf der Übergangsphase besteht zwischen London und Brüssel wenig Einigkeit. Fest steht immerhin: Im Oktober muss der Durchbruch gelingen, wenn der größte Binnenmarkt und die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt die künftige Wirtschaftszusammenarbeit vertraglich regeln wollen. Für die am Dienstag beginnende neunte Verhandlungsrunde drückt die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson mit Blick auf den EU-Gipfel Mitte Oktober aufs Tempo. Hingegen gibt sich EU-Chefunterhändler Michel Barnier gelassen.

Zum gewohnten informellen Auftakt der Gespräche empfing Barnier in der belgischen Hauptstadt nicht nur sein britisches Pendant David Frost, sondern diesmal auch den zuständigen Kabinettsbürominister Michael Gove. Der Besuch des Brexit-Planers und engen Johnson-Vertrauten symbolisiert die Bedeutung, die London dem Fortgang der Verhandlungen beimisst.

Johnson optimistisch, sonst niemand

Die Abwesenheit eines Handelsvertrags mit dem weitaus größten Exportmarkt der Insel, der sogenannte "No Deal", sei gar kein Problem, hat Premier Johnson immer wieder öffentlich behauptet: "Wir florieren in jedem Fall." In Wirklichkeit wächst in Londoner Regierungsstuben die Furcht vor Handelshindernissen, verstopften Autobahnen und Versorgungsengpässen, die Großbritanniens chaotisches Ausscheiden aus allen vertraglichen Bindungen mit der EU zur Folge hätte. Neben der Corona-Pandemie, deren Bekämpfung im Vereinigten Königreich erschreckende Mängel aufweist, könne man sich eine zweite Rechnung mit allzu vielen Unbekannten nicht leisten, heißt es. Zumal die Popularitätswerte des Premierminister schon jetzt einen Tiefstand erreicht haben.

Minister Gove erschreckte das Land vergangene Woche mit einer unerfreulichen Vision: Im Jänner könnten sich "schlimmstenfalls" binnen weniger Tage vor den Ärmelkanalhäfen Schlangen von 7.000 Lastwagen bilden, was den Just-in-time-Handel mit dem Kontinent um 48 Stunden verzögern würde – katastrophal besonders für frisches Obst und Gemüse, das die Insel im Winter zum überwiegenden Teil aus der EU bezieht. Das Szenario halten Marktteilnehmer für realistisch, gestritten wird lediglich über die Ursachen. Der Minister macht Spediteure und Import-Export-Firmen dafür verantwortlich, sie seien unvollständig auf die neue Brexit-Bürokratie vorbereitet. Hingegen vermissen die betroffenen Berufsverbände energisches Engagement der Regierung, nicht zuletzt bei der Rekrutierung von rund 50.000 neuen Zollagenten, die nach Goves eigener Aussage künftig notwendig sein werden – und zwar egal, ob es noch zu einer Vereinbarung kommt oder nicht.

Bewegung auf beiden Seiten

Deren Wahrscheinlichkeit beurteilen Experten beiderseits des Ärmelkanals vorsichtig. Immerhin hätten beide Seiten immer wieder erklärt, "dass sie einen Deal wollen", erläuterte Georgina Wright vom Londoner Thinktank IfG vergangene Woche dem Brexit-Ausschuss des Unterhauses. In London klingt das Pochen auf die dafür nötigen Kompromisse deutlich drängender als in Brüssel. Am liebsten, heißt es hinter den Kulissen, wäre Frost mit seinem Verhandlungsteam schon diese Woche "im Tunnel" verschwunden – so bezeichnen Handelsexperten jene entscheidende Phase, in der beide Seiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen tragfähigen Deal zimmern. In Brüssel wird neuerdings sogar von einem "U-Boot" gesprochen, wobei unklar bleibt, ob dadurch das Unwohlsein der Verhandler noch vergrößert werden soll.

Wright zufolge gibt es Fortschritte bei der zukünftigen Forschungszusammenarbeit. Hingegen hat sich an den beiden wichtigsten Brocken auf dem Weg zu einer Einigung wenig geändert: Nach wie vor streiten beide Seiten um die zukünftigen Rechte von EU-Fischern in britischen Gewässern sowie die Angleichung von Staatshilfen für Unternehmen, die in Bedrängnis geraten sind. Allerdings sieht der Handelsexperte Shanker Singham, ein Regierungsvertrauter, immerhin Bewegung auf beiden Seiten. Die EU sei von ihrer Maximalposition des bisherigen Status quo abgerückt. Statt den Briten nahezulegen, sie sollten Staatshilfen wie bisher handhaben, verlangt Brüssel inzwischen nur noch, Londons eigene Regeln müssten "dem gleichen Ziel" dienen. Da Großbritannien jedenfalls bisher deutlich weniger staatliche Industriepolitik betrieben hat als beispielsweise Deutschland oder gar Frankreich, müsste sich eigentlich ein Kompromiss finden lassen, glaubt Singham.

Gleiches gelte auch für die Fischerei: "Das Königreich braucht ausländische Fischer in seinen Gewässern." Tatsächlich ist die britische Fangflotte einstweilen gar nicht auf großzügigere Quoten bei den rund 100 unterschiedlichen Kategorien ausgelegt. Wichtig sei am Ende, so Singham, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die Chefs anderer wichtiger Fischereistaaten "einen Sieg erklären" könnten. (Sebastian Borger aus London, 28.9.2020)