Der französischen Gelbwestenbewegung, deren Proteste zwischen November 2018 und Frühjahr 2019 in zahlreiche Krawalle mündeten, ist politisch eher uneinheitlich und versammelte auch Anhänger extremer Positionen wie rechtsradikale Nationalisten und anarchistische Aktivisten.
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Wien – In den USA, in Ungarn, in Frankreich, aber auch in Österreich – überall ein ähnliches Bild: Die Gesellschaft spaltet sich in einigen Staaten ausgeprägter in Rechte und Linke, während die politische Mitte langsam schwindet. Woher dieser Trend kommt und wie man ihn aufhalten kann, damit beschäftigen sich Soziologen, Geschichtswissenschafter, Politologen und Psychologen gleichermaßen.

Auch Systemtheoretiker liefern ihren Beitrag zu der Diskussion: Ein Team um David Garcia vom Complexity Science Hub (CSH) in Wien versucht das gesellschaftliche Auseinanderklaffen anhand der psychologischen "Gewichtete Balance"-Theorie zu erklären. Das etwas fatalistische Fazit der Modellierung: Politische Radikalisierung ist eine unausweichliche Entwicklung. Zumindest auf Grundlage dieses Modells seien einstmalige Meinungsüberlappungen nur ein Zwischenzustand gewesen.

Angepasste Meinungen für das emotionale Gleichgewicht

Garcias Arbeit nähert sich sozialwissenschaftlichen Fragen mit Computerunterstützung: Er entwirft hauptsächlich agentenbasierte Modelle zum menschlichen Verhalten auf Grundlage digitaler Spuren. Ausgangspunkt dieser Modelle sind statistische Analysen von riesigen Datensätzen von Online-Interaktionen.

Der Forscher und seine Kollegen verfeinerten nun die von dem österreichischen Psychologen Fritz Heider 1946 aufgestellte Kognitive Balancetheorie. Sie besagt, dass Menschen psychologisch ausgeglichen sind, wenn Personen, die sie schätzen, die gleiche Meinung bezüglich verschiedener Angelegenheiten haben. Ebenso sei es für die Psyche befriedigend, wenn ungeliebte Personen andere Meinungen vertreten. Wenn man einem Freund widersprechen oder einem Feind zustimmen muss, ist jedoch das emotionale Gleichgewicht gestört. "Die Leute versuchen dann dieses Dilemma aufzulösen, indem sie ihre Meinungen anpassen", erklären die Forscher.

Sie fügten in dem neuen Modell ein, dass die Leute nicht strikt für oder gegen etwas sein müssen, sondern auch nur ein bisschen in eine Richtung tendieren können. "Wenn man sich die alte Literatur ansieht, war das Modell von Anfang an so geplant, aber man wendete es zwischenzeitlich nur mit ausschließlich positiver oder negativer Attitüde an", sagt Garcia. "Wir können nun eine viel geschmeidigere Meinungsdynamik modellieren, die mehr der Wirklichkeit entspricht." Die Menschen ändern nämlich ihre Meinung nicht komplett hin und her, sondern passen sie graduell an die Umstände an.

Video: Wie es zur Hyperpolarisierung kommt.
David Garcia

Hyperpolarisierung unabhängig von Filterblasen

Das "Gewichtete Balance"-Theoriemodell zeige nun, dass die Hyperpolarisierung in extreme Meinungen unabhängig von sozialen Echokammern und Filterblasen passiert, wo vorgefasste Ansichten durch immerwährende Wiederholung ständig bestätigt und andere Sichtweisen ausgefiltert werden. Die Menschen sind stattdessen einfach nur in einem Teufelskreis, wo intensive Emotionen und Meinungen schrittweise moderate Positionen verdrängen, bis die meisten Angelegenheiten nur mehr aus dem gleichen Blickwinkel gesehen werden wie bei den politischen Verbündeten, so die Forscher. Oft sei dieser dann sehr extrem.

"Das Ganze endet in totaler Polarisierung", sagt Garcia. Die Leute würden dann kategorisch für oder gegen eine ganze Reihe von Reizthemen sein, wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und Atomenergie. "Die mögliche Variation von Kombinationen unterschiedlicher Meinungen wird auf die traditionellen Spaltung in Linke und Rechte reduziert", erklärt er. Laut der im "Journal of Artificial Societies and Social Simulation" veröffentlichten Studie kommt es zumindest in diesem Modell zur Kombination von einer Gleichschaltung von Meinungen zu mehreren Themen und generell radikaleren Meinungen, die zur Hyperpolarisierung der Gesellschaft führt.

Harmonie als vorübergehender Zustand

"Im Modell konnten wir vor der Hyperpolarisierung eine ausnehmend harmonische Phase beobachten", so der Komplexitätsforscher. "Der breitere Konsens, den wir in der Vergangenheit hatten, war demnach ein Merkmal eines temporären Zustands, und wir sind vielleicht schon die ganze Zeit auf dem Weg in eine politische Radikalisierung." (red, APA, 29.9.2020)