Swetlana Tichanowskaja kommt beim Hotel Kempinski in Vilnius an, um dort Frankreichs Präsidenten Macron zu treffen.

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Emmanuel Macrons Besuch in Litauen und Lettland stand seit längerem auf dem Programm, erhielt aber eine aktuelle – und sehr politische – Note durch sein Treffen mit der belarussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja. Die kurzfristig anberaumte Unterredung in Vilnius habe 35 Minuten gedauert, ließ das französische Präsidialamt nur verlauten.

Die Aussagekraft des Treffens musste gar nicht mehr unterstrichen werden, nachdem Macron am Sonntag einer Pariser Zeitung erklärt hatte, dass der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko nach seiner umstrittenen Wahl abtreten müsse. Tichanowskaja bat Macron laut ihrem Sprecher um Vermittlung zwischen Lukaschenko und den Demonstranten.

Der Besuch des französischen Staatschefs stellt eine politische Kurskorrektur dar, die auch auf die Haltung der EU bei ihrem Gipfel Ende dieser Woche einwirken dürfte. In Paris räumen Diplomaten nun ein, dass Macrons monatelange Charmeoffensive gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Fehler gewesen sei.

Europastaatssekretär Clément Beaune kommt in einem langen Grundsatzpapier für das Französische Institut internationaler Beziehungen (Ifri) zu dem Schluss, dass es "zweifellos besser gewesen wäre, die Reihenfolge der Faktoren umzudrehen": Zuerst hätte Macron "im EU-Rat kollektiv debattieren sollen, um dann nach Polen und in die baltischen Staaten zu reisen – um erst dann einen neuen Dialog mit Russland zu starten".

Noch im Sommer beste Freunde mit Putin

In Wirklichkeit hatte der französische Staatschef das Gegenteil gemacht. Im Sommer hatte er Putin auf seinem Sommersitz an der Côte d'Azur empfangen und umgarnt. Damit machte er den Kremlchef nicht gefügig – dafür seine europäischen Nachbarn wütend.

Zuletzt geriet Macron selber in Rage: Gegenüber Putin sprach er am Telefon selbst unverblümt von einem "Mordversuch" am russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Auch sein Besuch in Litauen und Lettland ist als Signal an Moskau zu verstehen: Frankreich will zusammen mit Deutschland den Anrainerstaaten Russlands den Rücken stärken. Während Macron nach Vilnius reiste, wurde bekannt, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel den genesenden Nawalny besuchte.

Absprachen mit Berlin

Die Absprache zwischen Berlin und Paris ist auffällig. Selbst bei Themen wie Nord Stream 2, bei denen die deutsch-französischen Differenzen bisher deutlich hervortraten, versuchen sich Macron und Merkel zusammenzuraufen, um mit einer Stimme zu sprechen. "Europäische Souveränität" nennt Macron, was in Wirklichkeit eine enge, aber vertrauliche deutsch-französische Koordinierung ist. Einmal spielt Merkel die harte Frau – wie gegenüber Moskau –, einmal gibt Macron den harten Mann – wie gegenüber Ankara.

Wenn Macron heute wieder den Schulterschluss mit Deutschland sucht, dann sicher auch, weil er erkannt hat, dass seine Alleingänge wenig Resultate zeitigen. Der französische Truppeneinsatz in Mali gegen westafrikanische Jihadisten stockt. Mit der Unterstützung des libyschen Warlords Khalifa Haftar sah sich Macron europaweit isoliert. Seine politische Intervention im Libanon ist gescheitert, und seine Kritik an der angeblich "hirntoten" Nato bewirkte bei den Verbündeten fast nur Ablehnung.

Nun spielt Macron wieder dezidiert die Karte der EU, in der ohne Berlin und Paris nichts läuft. Denn die EU hat Macron auch zum bisher größten außenpolitischen Erfolg verholfen, nämlich der gemeinsamen Übernahme des Corona-Schuldenpakets. Auch geopolitisch entdeckt Macron wieder die Vorzüge der EU: Vom östlichen Mittelmeer bis nach Nordeuropa sieht er in ihr ein Mittel, in die geopolitische Lücke zu stoßen, welche die mit sich selbst beschäftigten USA und Großbritannien hinterlassen. (Stefan Brändle aus Paris, 29.9.2020)