Man muss die EU weiterentwickeln, fordert der Wirtschaftsweise Achim Truger. Ansonsten würde bei der nächsten Krise gleich die nächste Zerreißprobe für den Euro drohen.

Foto: imago

Von unangenehmen Corona-Tests ließ sich der deutsche Wirtschaftsweise Achim Truger nicht abschrecken und reiste von Duisburg nach Wien und wieder zurück. Das nehme er gerne in Kauf, sagt er, der Anlass mache ihn sehr stolz – Truger wurde diese Woche nämlich der Kurt-Rothschild-Preis verliehen. Bevor er seiner Preisrede den letzten Feinschliff verpasste, traf er den STANDARD zum Interview.

STANDARD: Österreichs Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) rechnet auch 2021 mit einer großen Neuverschuldung. Nach der Krise wünscht er sich wieder größere Haushaltsdisziplin in Europa. Richtig und wichtig?

Truger: Es ist bemerkenswert, dass er sich immerhin dazu bekannt hat, das nächste Jahr weitere Schulden zu machen. Aber wenn die Lage in drei Jahren immer noch fragil ist, kann man kein ausgeglichenes Budget verlangen. Man kann es den EU-Staaten auch nicht verordnen. Wir riskieren, gleich in die nächste Krise zu rutschen, wenn wir die Konjunktur zu schnell abwürgen.

STANDARD: Riskieren wir keine neue Schuldenkrise, wenn die EU-Staaten ihre Haushalte überstrapazieren?

Truger: Die Staatsschuldenkrise nach 2010 war Politikversagen, man hat die Märkte unnötig verunsichert. Heute ist klar, dass die Europäische Zentralbank zur Stelle ist, und auch die europäische Einigung auf ein großes Hilfspaket samt Aufbaufonds sollte die Kapitalmärkte beruhigen. Wichtig ist, dass die Schuldenstände in Relation zur Wirtschaftsleistung mittelfristig wieder zurückgehen. Wenn wir die Erholung gut hinbekommen, kann Europa aus seinen Schulden herauswachsen.

Der Wirtschaftsweise wünscht sich, dass die EU-Politik wieder ein bisschen mehr von Außenministern und Diplomaten bestimmt wird – und ein bisschen weniger von Finanzministern.
Foto: EPA

STANDARD: Wächst die EU nicht eher in eine Schuldenunion hinein? Für den Wiederaufbau nimmt sie massenhaft Schulden auf.

Truger: Es gibt keine gesamtschuldnerische Haftung, sondern jeder Staat bürgt mit seinen Anteilen am EU-Haushalt. Sonst hätte man sich auch nie darauf geeinigt. Die Sache ist politisch extrem umkämpft. Die einen wollten mittelfristig echte Corona-Bonds und sprechen jetzt von einem Hamilton-Moment für die EU. Die anderen wollten weder gemeinsame Schulden noch Zuschüsse und beharren jetzt darauf, dass der Aufbaufonds samt gemeinsamen Schulden eine Ausnahme bleibt.

STANDARD: Was ist Ihre Meinung dazu?

Truger: Aus meiner Sicht können wir nicht darauf verzichten. Wir haben ja gesehen, dass die bisherigen europäischen Institutionen nicht krisenfest sind – sonst hätten wir den Aufbaufonds nicht gebraucht. Es musste auf europäischer Ebene etwas passieren. Gleichzeitig sind die Maßnahmen, die aus dem Fonds finanziert werden, nationale Maßnahmen. Sie können auch einen europäischen Mehrwert haben, aber gerade geht es noch darum, die einzelnen Volkswirtschaften wieder ins Laufen zu bekommen. Aber dass gesamteuropäisch noch mehr passieren muss, ist klar. Man muss die EU weiterentwickeln.

STANDARD: In welche Richtung?

Truger: Man wird die europäischen Schulden refinanzieren müssen. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder man kürzt bei bestimmten Projekten – oder man schafft neue Einnahmequellen. Das können neue Schulden sein, aber es entsteht auch der Druck, neue Abgaben und Steuern auf europäischer Ebene einzuführen – was ich prinzipiell für gut halte. Die Plastikabgabe kann ein erster Schritt sein. Eine Finanztransaktionssteuer und Zusatzeinnahmen aus dem Emissionshandel halte ich für vernünftiger.

STANDARD: Das zu verhandeln wird schwierig. Es geht in der EU auch um Verteilungsinteressen.

Truger: Ja. Es prallen in der EU zudem zwei Weltsichten aufeinander. Die eine ist: Wir brauchen strenge Haushaltsregeln, und wer seinen Haushalt nicht im Griff hat, ist selbst schuld und muss sich eben gesundsparen. Dazu gehört auch, Arbeitnehmerrechte abzubauen und Sozialleistungen zu kürzen. Die andere Weltsicht lautet: Man hat als Einzelstaat nicht die Möglichkeiten, sich allein gegen eine Krise zu stemmen. Austerität verschärft die Krise. Diese zweite Sicht halte ich für richtig. Es braucht gute finanzpolitische Instrumente, die im Krisenfall bereitstehen und die Politik der einzelnen Staaten flankieren.

STANDARD: Gefährdet dieser Konflikt der Weltsichten die Existenz der Eurozone?

Truger: Ja. Wenn wir diese Konfliktlinien nicht irgendwann auflösen, wird jede weitere Krise wieder zu denselben Debatten führen. Was im Zuge der Corona-Krise auf EU-Ebene beschlossen wurde, war wahnsinnig wichtig. Aber es löst den Grundkonflikt nicht, sondern bringt erst einmal eine Atempause.

STANDARD: Österreich ist als Teil der Frugalen Vier besonders geizig aufgetreten. War das nicht eher Verhandlungstaktik als Überzeugung?

Truger: Als externer Beobachter kann ich da nur spekulieren. Im Falle Österreichs hatte ich schon das Gefühl, dass es eher Taktik war. Aber in Schweden und den Niederlanden sah es schon so aus, als sei die harte Position mehr als nur Taktik. Die Niederlande sind auch ein Beispiel dafür, was Austeritätspolitik anrichten kann. Traditionell sind die Niederlande wirtschaftsstark, deshalb hat es niemand so richtig bemerkt. Aber die niederländische Bevölkerung wurde nach 2010 mit gewaltigen Kürzungen konfrontiert, auch gerade in der Alterssicherung und in vielen anderen Bereichen. Das ist der Spaltpilz, der in die Gesellschaften getragen wird, wenn man einmal mit dem Kürzen anfängt. Wenn man die Menschen schmerzhaften Kürzungen unterzieht, werden sie nicht gegen Kürzungen in anderen Ländern sein. Das ist das Gift, das die Austerität in den einzelnen Ländern versprüht.

Das Spardiktat der sogenannten Troika nach der Eurokrise gefiel vielen Griechen überhaupt nicht.
Foto: APA / AFP / Sakis Mitrolidis

STANDARD: Allerdings kann man auch Staaten wie Italien Verhandlungstaktik vorwerfen. Da wurde laut nach finanzieller Unterstützung gerufen. Das kurzfristige Corona-Hilfspaket wurde nach zähen Verhandlungen geschnürt, aber bis heute hat man beispielsweise keine eigens zur Verfügung gestellten ESM-Gelder beansprucht.

Truger: Ich finde das nachvollziehbar. Mit dem Rettungsschirm verbindet man die Troika, ein Diktat von außen. Europa muss weg von dieser Mentalität, wo sich jeder Finanzminister als Sparkommissar geriert und die Nase in den Haushalt der Partnerstaaten steckt. Ich wünsche mir manchmal, dass die Politik in Europa wieder stärker von den Außenministern und Diplomaten bestimmt wird und viel weniger von den Finanzministern.

STANDARD: Beschleunigt die Corona-Krise die Ökologisierung der europäischen Wirtschaft?

Truger: Man kann Corona mit langfristigen Reformplänen verbinden. Es spricht alles dafür, den Strukturwandel in die richtige Richtung zu treiben. Die Auflagen für den Recovery Fund besagen ja, dass mehr als ein Drittel der Gelder in ökologische Projekte fließen soll. Auch könnte man jetzt andenken, bei der Versorgung mit medizinischen Gütern besser zusammenzuarbeiten, indem man etwa gemeinsam beschafft und gemeinsame Lager hält. Das sind lauter vernünftige Sachen und auch Reformen, die den Menschen nicht wehtun. Auch das deutsche Konjunkturpaket hat übrigens eine sozialökologische Investitionskomponente.

STANDARD: Hat Deutschland die richtigen Maßnahmen gesetzt?

Truger: Dass das deutsche Konjunkturpaket notwendig war, ist in der Ökonomenzunft so gut wie gar nicht umstritten. Wirkungsanalysen zeigen, dass die Rezession heuer wegen des Paktes um einen Prozentpunkt milder ausfallen dürfte. Und das Paket wurde wohlgemerkt erst zur Jahreshälfte geschnürt. Es wirkt also. Über die Details kann man freilich streiten. Es hätte vielleicht bessere Maßnahmen als die Umsatzsteuersenkung gegeben. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es stärker in Richtung Transfers geht. Man hätte stärker beim Kinderbonus ansetzen können. Und die Unternehmen hätte man durch einen noch etwas besseren Verlustrücktrag entlasten können. Auch bei der Abschreibungsvergünstigung wäre etwas mehr möglich gewesen.

STANDARD: Und die Kurzarbeit hat Schlimmes am Arbeitsmarkt verhindert.

Truger: Die Kurzarbeit ist ein Instrument, um das die Welt Deutschland und Österreich beneidet. In Deutschland wurde sie zwar auch in der letzten Krise schon stark genutzt, aber bei weitem nicht so stark wie in der Corona-Krise mit über sechs Millionen von Kurzarbeit betroffenen Menschen. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Arbeitslosigkeit ohne diese Maßnahme in die Höhe geschossen wäre. Man hat da unheimlich gute Stabilisierungsarbeit gemacht, deshalb ist auch wichtig, dass man da weitermacht. (Aloysius Widmann, 30.9.2020)